Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Füssl · 15. Mai 2017 · Tanz

Wunderschöne Tode - Michèle Anne De Mey/Jaco Van Dormael – collectif Kiss & Cry begeisterten mit „Cold Blood“ beim „Bregenzer Frühling“

Die belgische Tänzerin und Choreografin Michèle Anne De Mey und ihr Landsmann, der Autor und Regisseur Jaco Van Dormael, verleihen dem gängigen Begriff „Kunsthandwerk“ eine völlig neue Bedeutung, denn sie lassen in ihrer originellen Produktion „Cold Blood“ nur Hände und Finger tanzen. Ein virtuoses Spiel mit Perspektiven und Realitätsverschiebungen – gespickt mit herzerwärmender Poesie und bissigem Witz.

 

Poetisch, melancholisch, witzig

Eine Stimme aus dem Off zählt die Zuschauer in den Schlaf und verheißt einen wundervollen Traum, der in der Tat dann auch fünfundsiebzig Minuten lang auf höchst angenehme Weise gefangen nimmt. Dabei sind die grundlegenden Themen von „Cold Blood“ nichts weniger als Tod und Sterben, was beim Durchschnittsmenschen normalerweise wenig Euphorie aufkommen lässt. Sieben Tode werden durchexerziert, ohne Angst und Schrecken zu verbreiten, unter völligem Verzicht auf jegliche Brutalität oder drastische Knalleffekte. Man kann zum Beispiel sterben, weil man als einziger gerade auf dem WC und nicht angeschnallt ist, als das Flugzeug abstürzt, weil man ausgerechnet gegen Kartoffelbrei allergisch ist, oder – was auch schon vorgekommen sein soll – in der Peepshow. Den roten Faden durch diesen Reigen aus kleinen Geschichten, die allesamt ausschließlich von den Händen und Fingern von Michèle Anne De Mey, Grégory Grosjean und Gabriella Iacono getanzt werden, bildet ein von der eingangs erwähnten Stimme gesprochener, gleichermaßen witziger wie poetischer und von einer angenehmen Melancholie durchzogener Text von Thomas Gunzig.

Höchstmaß an Technik

Dabei geht es nicht nur um die höchst erstaunliche Fingerfertigkeit der Akteure, die in einer Vielzahl an aufwändig gestalteten Miniaturbühnenbildern ihre künstlerisch wie handwerklich perfekten Showeinlagen liefern und dabei live gefilmt werden. Damit die überdimensional auf eine Riesenleinwand projizierten Finger effektvoll zur Wirkung kommen, braucht es auch das perfekte Zusammenspiel von Kameramann, Bühnentechnikern, Effektspezialisten, Tontechnikern, Beleuchtern etc. Es ist ein virtuoses Spiel im Spiel, das sich den Zuschauern bietet und permanent ein reizvolles Hin- und Her-Switchen zwischen diesen beiden Ebenen ermöglicht. So abwechslungsreich wie der aus Oper und Musical, Lou Reed, Janis Joplin und David Bowie gemixte Soundtrack waren auch die visuellen Erfindungen, die mit relativ einfachen Mitteln traumhafte Welten entstehen ließen. Da lässt man Finger steppen wie einst Fred Astaire und Ginger Rogers, lässt sie wie Synchronschwimmerinnen aus der Vogelperspektive wirken, zu Ravels „Boléro“, oder eben an der Poledancestange tanzen. Es ist ein geniales Spiel mit Perspektiven und Realitätsebenen, niemals plakativ, sondern immer hintergründig und trotz der Schwere der Thematik von großer Leichtigkeit. Tanz, Theater, Kino und Poesie gehen in „Cold Blood“ symbiotische Beziehungen ein, die in ihrer Gesamtheit weit mehr ergeben als die Summe ihrer Einzelteile.

Der ehemalige Kulturamtsleiter Wolfgang Fetz, der diesen „Bregenzer Frühling“ noch konzipiert hat, hat mit dieser Produktion einmal mehr etwas ganz Außergewöhnliches ins Festspielhaus gebracht. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen, nachdem es von der Off-Stimme aus dem Traum wieder in die Realität zurückgezählt wurde, die zumindest für eine kurze Zeit eine andere war als vor diesem wundervollen Abend.