Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Füssl · 19. Jun 2021 · Tanz

tanz ist Festival am Spielboden: Überragend! Liquid Loft mit „Stand-Alones (polyphony)“ im Parkhaus

Die Wiener Tanzcompagnie Liquid Loft und ihr Mastermind Chris Haring zählen seit vielen Jahren mit den unterschiedlichsten Produktionen zu den Fixstartern bei Günter Marinellis tanz ist Festival am Spielboden. Jede Aufführung endet mit begeistertem Applaus, und jedes Mal ist man versucht zu sagen: „Besser geht’s nicht mehr!“ Und dann kommen sie mit einer neuen Produktion, und gefühlt ist es doch noch einmal besser gegangen, weil im Hier und Jetzt die Vorzüge der älteren Produktionen gegenüber der neuesten etwas verblassen. Also ersparen wir uns am besten die müßige Überlegung, was den experimentierfreudigen Damen und Herren in Zukunft wohl noch so alles einfallen wird, und freuen uns über diese geniale Performance im Parkhaus von Rhomberg‘s Fabrik. Sollte jemand gedacht haben, dieser außergewöhnliche Aufführungsort sei eine Corona geschuldete Verlegenheitslösung, was er ursprünglich vielleicht sogar einmal war, so wird man rasch eines Besseren belehrt: Die räumlichen Bedingungen sind ideal!

Hautnahe Einblicke und spannende Aussichten

Im Vorfeld der Aufführungen und trotz anstehender fast vollständiger Lockerungen der Corona-Maßnahmen hat der Amtsschimmel allerdings nochmals ordentlich Hafer gefressen und tagelang voller Inbrunst gewiehert. Nach zähen Verhandlungen ist dann doch noch ein tragfähiger Kompromiss herausgekommen: das Publikum wurde halbiert und in getrennten Aufgängen in das sechste bzw. siebte Stockwerk, das mit einer weiteren Dachebene verbunden war, geführt. Die beiden Publikumsgruppen durften während der einstündigen Performance nicht in Kontakt miteinander kommen (was man/frau folglich vorher und nachher im Freien – und so intensiv wie gewollt – erledigte). Die sieben Akteur*innen pendelten hingegen zwischen den drei Ebenen und dort wiederum zwischen einzelnen Standorten hin und her und demonstrierten in unterschiedlichsten Solo-Performances eindrucksvoll ihr Können. Die Zuschauer*innen konnten sich zwischen den Stationen ebenfalls frei bewegen und sich sozusagen eine jeweils ganz individuelle Choreographie erlaufen. Als besonders vorteilhaft erwies sich die Verteilung auf optisch nicht wirklich abgetrennte Halbstöcke, von denen aus man das Geschehen rund um sich, aber auch einen Halbstock höher und tiefer im Blick haben konnte. Da waren hautnahe Einblicke ebenso möglich wie spannende Aussichten auf Entfernteres.

Egon Schieles Körperbilder als Inspiration

Ursprünglich wurde „Stand-Alones (polyphony)“ vor zwei Jahren für das Leopold Museum konzipiert, man ließ sich dort von Egon Schieles Körperbildern inspirieren. Dementsprechend ausdrucksstark gerieten auch die höchst unterschiedlichen Performances. Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak und Hannah Timbrell waren mit kleinen, tragbaren MP3-Playern und Bluetooth-Lautsprechern bestückt und wählten an ihren jeweiligen Standorten aus einer Vielzahl an erarbeiteten Choreographien jeweils ungefähr zehn eigenständige solistische Sequenzen aus. Das ergibt in Summe also einen aus 70 Solo-Choreographien zusammengesetzten Performanceabend, der zusätzlich von der Beweglichkeit und Konzentrationsfähigkeit des Publikums abhing – dieses Erlebnis bleibt also auf seine Art einzigartig und unwiederholbar.

Für den außergewöhnlichen Soundtrack sorgt – wie auch schon bei früheren Produktionen – Andreas Berger. Die Akteur*innen können aus einer Vielzahl von akustischen Ideen schöpfen: rhythmisierte Soundschnipsel und Umweltgeräusche, bis zur Unverständlichkeit elektronisch verzerrt Sprechsequenzen, mehr oder weniger kluge Verbalergüsse, die lippensynchron mitgesprochen werden, fragmentarisch zusammengesetzte Musikschnipsel bis hin zu Auszügen aus amerikanischen Country-Schnulzen. Dementsprechend unterschiedlich ist auch das tänzerische Vokabular, das von minimalistischen Zuckungen, über repetitive Bewegungsmuster bis hin zu abenteuerlichen, die Gesetze der Schwerkraft und des Körperbaus in Frage stellenden Verrenkungen reicht. Zusätzlich wurden auch die Parkraum-Gegebenheiten genützt, und Begrenzungsgitter, von denen man sich kopfüber herunterhängen ließ, und Stahlpfosten, auf denen man sitzend gestikulierte, wurden zu Tanzzwecken adaptiert. In Kombination mit einer exaltierten Mimik und angesichts der Nähe zu den Akteur*innen ergeben sich dadurch tief unter die Haut gehende Eindrücke, die möglicherweise auch Herrn Schiele zu einigen weiteren Bildern inspiriert hätten. Verzweiflung, Wut, sexuelles Verlangen oder Seelenpein ließen sich aus manchen Sequenzen herauslesen, wobei aber längst nicht alles dramatisch oder tragisch erschien. Vieles ist – wie bei Liquid Loft üblich – mit feiner Ironie gewürzt, manches begeistert durch Aberwitz. So hat mich etwa eine an sich nicht besonders spektakuläre Sequenz mit dem x-fach rezitierten Satz „Der Bär ist böse“ höchst amüsiert.

Polyphone Zwischenspiele und Finale

Irgendwie mystisch-kultisch wirkten jene Zwischenspiele, in denen sich alle Akteur*innen aus ihren jeweiligen Situationen lösten und zum gemeinsamen, von mehrstimmigen Gesängen begleiteten Tanz synchronisiert wurden. Mit verdrehten Augen und verkrampft um den Leib geschlungenen Armen vollführten sie einen eigenartigen Drehtanz und wirkten dabei wie in der Ekstase aus Zeit und Raum geworfene Derwische. Eine Gemeinschaft aus lauter Individuen. So etwas eröffnet natürlich ungeahnte Räume für philosophische Interpretationsversuche, für konzeptionelle Hinterfragungen oder tiefgreifende Analysen, inwiefern unser aller Pandemie-Erfahrungen die Produktion und die Rezeption beeinflussten. Darüber könnte man Bücher schreiben, wir belassen es für heute aber lieber bei der einfachen Feststellung: Es war ein echt geiler Performance-Abend!

Schnellentschlossene haben heute Abend nochmals die Möglichkeit, Liquid Loft zu sehen. Auf geht’s – es lohnt sich wie selten etwas! www.spielboden.at