Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Mirjam Steinbock · 29. Mär 2022 · Tanz

Ein Stück wie ein Erdbeben – Akram Khans „Outwitting the Devil“ beim Bregenzer Frühling

Die zweite Produktion des diesjährigen Tanzfestivals Bregenzer Frühling fegte wie eine Naturgewalt durch das Festspielhaus. Das Tanztheater „Outwitting the Devil“ von der Akram Khan Company flutete in 80 Minuten die sinnliche Wahrnehmung eines nach internationaler Bühnenkunst dürstenden Publikums und ging bis an die Grenzen des Zumutbaren. Am Ende dieses perfekt inszenierten Wechselspiels von Musik und Sound, Körper- und Lichtkunst, Schnelligkeit und Stagnation sind Wälder abgeholzt, Gottheiten erzürnt, Leben vernichtet und die Sintflut scheint in fühlbarer Nähe. Durch einen Kunstgriff verbleibt das Meisterwerk des britischen Choreografen jedoch nicht als Dystopie auf der Bühne, es erschüttert vielmehr im aktuellen Kontext und entwickelt sich zu einem dringenden Appell an die Menschheit.

Der britische Choreograf Akram Khan ist Kenner des indischen Tanzes Kathak und spezialisiert auf eine enge Verknüpfung von traditionellem und zeitgenössischem Tanz. Nach Beendigung seiner eigenen Tanzkarriere konzentriert er sich als künstlerischer Leiter der Akram Khan Company mittlerweile auf die Interpretation großer epischer Werke. Dazu gehörte bereits das indische Mahabharata Epos, dem er sich in „Until the Lions“ widmete, und im aktuellen Stück „Outwitting the Devil“ ist es das Gilgamesch-Epos, eines der ältesten überlieferten Dichtungen der akkadischen und sumerischen Literatur. 2011 wurde im Irak eine Tonscherbe mit zwanzig zuvor unbekannten Versen der Tafel IV freigelegt. Für „Outwitting the Devil“ ließ sich Akram Khan von diesem Bruchstück der insgesamt zwölf Tontafeln inspirieren. Das Stück erzählt ein Kapitel im Leben des jungen Gilgamesch und seine Freundschaft zu Enkidu, einem von den Göttern aus Lehm geschaffenen und in der Wildnis aufgewachsenen Mannes, der ursprünglich die Aufgabe hatte, den stolzen und vergnügungssüchtigen Gilgamesch zu besiegen. Mit gleich großen Kräften ausgestattet werden Gilgamesch und Enkidu jedoch zu Freunden. Sie begeben sich auf ihren Reisen in den Zedernwald, in dem wilde Kreaturen und Geister leben. Sie töten dessen Hüter Humbaba, zerstören den Wald und alle darin lebenden Tiere, was die Götter dazu veranlasst, Gilgamesch zu bestrafen und Enkidu das Leben nehmen.

Außergewöhnliche Tanzkunst

Akram Khan wählt zwei Tänzerinnen und vier Tänzer, von denen einer den alten und sterbenden Gilgamesch darstellt. Eingewoben in die eigene Geschichte und umgeben von den Figuren seiner Erinnerung, taumelt der von Reue gebeugte Gilgamesch nochmals durch die kraftstrotzenden und gleichzeitig gewalttätigen Ereignisse seiner Jugend. Dies unterstützt ein Voiceover, die einzige Stimme des Stücks, die unter anderem darüber berichtet, was im Zedernwald geschah. Das Zentrum der Bühne bilden geometrisch angeordnete, rechteckige Fragmente, die an Bauelemente oder auch Baumstümpfe erinnern. Im Hintergrund dieses Zentrums sind größere kubische Formen angeordnet, auf der rechten Seite ein langes Element, das sowohl als Tisch, Altar oder Sarg interpretiert werden kann. Je nach Beleuchtung entfaltet sich der Raum zu Stadt und Region, Steppe, Wald und Meeresstrand oder wird in warmem Licht mit Nebel zu einer intimen Begegnungszone, auf der aufflammende Emotionen mit rasender Wut und wilder Leidenschaft ihre Bedeutung für die Entwicklung des Stücks erhalten. Die strenge Geometrie durch Bühnenbild und Lichtkörper wird gebrochen durch die durch den Raum wirbelnden Charaktere, deren Tanzvermögen und Ausdruckskraft atemberaubend sind. Mehrere traditionelle und moderne Tanzstile treffen hier ganz selbstverständlich aufeinander: Der südindische Bharatanatyam, der von Mythili Prakash so anmutig wie überzeugend interpretiert wird, philippinischer Volkstanz, von Jasper Narvaez in fließenden Abfolgen dargeboten, und Elemente des Urban Dance, performt von Luke Jessop, wechseln sich mit den anmutigen Drehungen, der kraftvollen Fußarbeit und präzisen und raumgreifenden Hand- und Armbewegungen von Elpida Skourou und Louis T. Partridge. Die Rollen der Tänzer:innen sind bis auf die von François Testory, der den alternden Gilgamesch darstellt, und Mythili Prakash als Göttin nicht klar zuordenbar. Tier, Pflanze und Mensch werden permanent sowohl Leben eingehaucht als auch genommen.

Dominanz der Musik

Den Takt dazu scheinen allein Musik, Sound und Stimme vorzugeben. Leichtes Wummern schwillt zu einem akustischen Volumen an, elektronische Beats lösen schweres Atmen ab, ein Violinspiel wird zu metallischem Klopfen. Auf metamorphische Weise dominiert die Musik von Vincenzo Lamagna das Geschehen und dirigiert gemeinsam mit dem Licht von Aideen Malone die Bewegungen der Charaktere, die sich immer wieder auf einer Diagonale im Bühnenzentrum begegnen, um plötzlich in der Bewegung zu erstarren und zu einem Tableau vivant zu werden - den Mund weit geöffnet zu einem stillen Schrei. Dieses Verharren in Bewegung und das Halten eines bestimmten Körperausdrucks ziehen unweigerlich hinein in eine Geschichte, die aktueller nicht sein könnte. 2019 uraufgeführt entwickelt sich „Outwitting the Devil“ im Rahmen des aktuellen Weltgeschehens zu einem Mahnmal. Akram Khans künstlerische Entscheidung, den alten Gilgamesch zu beleuchten und ihn in einem von qualvollen Erinnerungen geprägten letzten Gang zu begleiten, wandelt die Erzählung ohne Fingerzeig zu einem dringenden Appell an die eigene Verantwortung.

Hoffnungsschimmer

Tatsächlich kann man sich in diesem Stück nie in Sicherheit wähnen, denn plötzlich ebbt ein Sound auf, der Resonanz in allen Körpern sucht. Der stabile Boden scheint unter den starken Füßen der Tänzer:innen und im Nachklang eines brutalen Mordes plötzlich zu rotem Staub zu zerfallen, ein Lichtstrahl am Horizont eröffnet den Blick auf eine kalte Stadt, die lediglich aus den Silhouetten ihrer Gebäude und Bewohner:innen besteht. Diese Reflexion des eigenen Tuns wirkt erschütternd und ist gleichzeitig exakt das, was große Kunst ausmacht. Und doch regt sich der Wunsch nach Zartheit und einem sicheren Weg aus der sich anbahnenden bereits befürchteten Katastrophe. Einen kleinen Hoffnungsschimmer geben letztlich die finalen Szenen des Stücks. Der große Mantel der Göttin wird durch gezielte Bewegungen zu Wellen an einem imaginären Meeresstrand, das nächste Kapitel des Epos kündigt sich schemenhaft an, das einprägsame Schlussbild gehört jedoch allein der Göttin im Licht bis schließlich nur noch der lange und heftige Applaus an die Künstler:innen zu hören ist.

www.bregenzerfruehling.com
www.akramkhancompany.net