Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Füssl · 13. Mär 2016 · Tanz

Carmen jenseits aller Klischees – Österreichische Erstaufführung von María Pagés „Yo, Carmen“ als hinreißender Start in den „Bregenzer Frühling“ 2016

Zum Auftakt von „Yo, Carmen“ lässt María Pagés im völlig verdunkelten Raum sieben weiße Fächer tanzen, zu denen sich ein roter gesellt, der im Mittelpunkt einer kleinen, marionettenhaften Stierkampf-Szene steht. Damit stellt sie gleich einmal klar, dass es nicht darum geht, die üblichen Erwartungshaltungen zu erfüllen und die mit dem bekannten „Carmen“-Stoff verbundenen Klischeebilder zu perpetuieren, sondern vielmehr darum, diese auf witzige und geistreiche Art mit den Mitteln des Tanzes zu demaskieren. Gut 170 Jahre nach Mérimées Buchveröffentlichung und 140 Jahre nach der Uraufführung von Bizets Oper holt sie die Femme fatal vom Sockel, um ihr als allgemeingültiges Frauenbild ein realitätsnäheres Denkmal zu schaffen.

Mehr als bloßes Objekt der Begierde

 

Statt unersättliche und letztlich katastrophal endende Leidenschaften zu entfachen, schwingen die Carmens von heute in Schürzen gewandet Besen und Putzlumpen – ein humorvoller Frühlingsputz im Flamencorhythmus, um überkommene Mythen zu entstauben. Oder sie reflektieren über Schlankheitswahn, Modebesessenheit und die falschen Versprechungen der Kosmetikindustrie. Dabei werden nicht nur die gängigen Männerphantasien entrümpelt, sondern gleich auch die Trugbilder, denen die Frauen selber allzu gerne aufsitzen. So wird jene Spiegel-Szene schließlich zum dramatischen Höhepunkt des Stückes, in dem sich drei Frauen erst einmal klischeegerecht in Schale werfen und mit Accessoires schmücken, ehe sie nacheinander entschwinden, bis zum Schluss nur noch María Pagés übrig bleibt, die sich in einem dramatischen Akt voller Entschlossenheit allen Firlefanzes entledigt. „Meine Carmen ist anders, eine Frau mit vielen Facetten, stark, schwach, kühn, feige, meine Carmen trägt das Antlitz aller Frauen“, erklärte Pagés in einem Interview in Spaniens größter Tageszeitung „El País“. Es geht um die Entwicklung eines  Frauenbildes,  kein Wunder also, dass  die Männer in ihrer Version des Stoffes nur eine völlig untergeordnete Rolle spielen und José Barrios erst nach fünfzig Minuten seinen ersten und gleichzeitg letzten größeren Auftritt hat.

Stimmungsvoll poetisch - witzig verspielt - kraftvoll energisch

 

María Pagés brilliert in den zehn Bildern ihrer geistreich-eigenwilligen „Carmen“-Choreographie nicht nur mit expressiven Solodarbietungen, sondern verblüfft auch mit einer kräfteraubenden Dauerpräsenz über die gesamte Stücklänge hinweg. Den sieben Tänzerinnen ihrer Companía lässt sie viel Raum zur Entfaltung. Sechs Musiker und zwei Sängerinnen – eine davon mit dem typisch kehligen, Gänsehaut erzeugenden Flamenco-Organ ausgestattet – zaubern mit Bizets Originalpartituren und Eigenkompositionen selbst ins riesig dimensionierte Festspielhaus noch intime Flamenco-Atmosphäre. Pagés setzt aber auch auf die Wirkung des Wortes und integriert geschickt in Originalsprache vorgetragene Texte von María Zambrano, Akiko Yosano, Marguerite Yourcenar, Margaret Atwood, Belén Reyes, El Arbi El Harti oder Widdad Benmoussa ins mal stimmungsvoll poetische, dann wieder witzig verspielte oder kraftvoll energische Spiel um die weibliche Selbstfindung. Ihrem Ruf als „Königin des Flamenco“ wird die 52-jährige Ausnahmetänzerin und –choreographin jedenfalls mühelos gerecht.