Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Anita Grüneis · 31. Jul 2023 · Literatur

Tabea Steiner: „Immer zwei und zwei“

Der Spagat zwischen Ehe, Familie, Kunst und Glauben

Die 42-jährige Autorin Tabea Steiner ist in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kreuzlingen im Kanton Thurgau aufgewachsen. Ein Umfeld, das sie offenbar prägte, denn im Mittelpunkt ihrer beiden Bücher steht die Enge einer (Dorf-)Gemeinschaft. In ihrem Erstling „Balg“ beschreibt sie das Heranwachsen von Timon, der mit seiner alleinerziehenden Mutter im Dorf ausgegrenzt wird und einzig zu seinem Lehrer Valentin ein Vertrauensverhältnis aufbaut, was wiederum von der Gesellschaft argwöhnisch beobachtet wird. Mit „Balg“ war sie für den Schweizer Buchpreis nominiert. Nun hat Tabea Steiner ihr zweites Werk vorgelegt: „Immer zwei und zwei“. Auch darin geht es um die Enge einer Gemeinschaft, die dieses Mal allerdings religiös geprägt ist.

Die Arche Noah und ihre Tiere

„Es gibt so viele Tiere im Zoo, Suli machte eine große Armbewegung, viel mehr als in der Arche Noah! Manuel lachte, alle Tiere waren in der Arche Noah, sonst hätten sie die Sintflut nicht überlebt. Wie haben die in einem einzigen Schiff Platz gehabt? Abi schaute zu ihrem Vater. Es waren immer zwei und zwei, von jedem Tier ein Männchen und ein Weibchen“, schreibt Tabea Steiner in ihrem Buch. Die zwei heranwachsenden Mädchen Suli und Abi sind die Töchter von Manuel und Natali, die in einer geordneten Gemeinschaft leben. Was als Familienidylle beginnt, zerbröselt allerdings nach und nach beim Lesen. Das liegt nicht nur daran, dass diese Familie zu einer Freikirche gehört, sondern auch am Freiheitsstreben von Natali, der alles zu eng wird, und die in der Theologin Kristin eine offene Gesprächspartnerin findet.

Tun, wie es sich gehört 

Natali ist in einer strengen kirchlichen Gemeinde groß geworden und wollte sich daraus befreien, doch dann heiratete sie Manuel und kehrte damit in den Schoß der Kirche zurück. Sie arbeitet als Lehrerin und engagiert sich in der christlichen Gemeinschaft. Der Mann bestimmt, wo es lang geht, und die Kinder besuchen die Sonntagsschule, wie sie es einst selbst getan hatte. Sex vor der Ehe ist ein großes Tabu. So wollte auch Natalis Vater damals unbedingt wissen, wie sie es damit gehalten hat. „Er ist immerhin ihr Vater. Und er hat schon recht, wenn sie es nicht sagen kann, dann wird sein Verdacht stimmen. Sie hätte wenigstens rote Knöpfe ans Kleid nähen können, zum Beispiel“, meint eine Freundin Natalis zu ihrem Partner. In einem Gespräch mit der neuen Freundin Kristin fragt Natali später: „Was hätte Manuel tragen sollen, damit man ihm seine Unreinheit ansieht?“

Allein der Glaube

Natali ist mit dem Glauben aufgewachsen, dass Gott den Mann und die Frau zusammenführt und der Mensch gar nichts dazu tun muss. Doch sie spürt immer mehr, dass etwas nicht stimmt. Es sind die Lügen, die ihr zu schaffen machen, die Ausreden, um das Idyll der glücklichen Familie und der sorgenfreien Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Glücklich ist Natali vor allem, wenn sie in ihrem Atelier mit Hammer und Meißel an ihrer Alabaster-Statue arbeiten kann. Denn die Kunst ist ihr wirkliches Daheim. Als sie dann auch noch die freiberufliche Theologin Kristin kennenlernt, eine bekennende Lesbe, mit der sie über alles reden kann, beginnt das Bibel-Kartenhaus ihrer Familie zusammenzubrechen. Kristin äußerst sich gegenüber ihrer Schwester: „Diese Gemeinschaften, diese Art Glauben, das ist stark, ich habe genug gesehen. (...) Natali war schon einmal davon weggekommen und ist trotzdem zurückgegangen, als sie ihren Mann kennengelernt hat. Nur schon, dass sie sich alles gefallen lässt, wie er über die Kinder bestimmt, dass sie sich nicht wehrt, nicht einfach zur Polizei geht. Sie wirkte auf mich, als wäre sie paralysiert.“ Das ambivalente Verhalten von Natali verunsichert auch Kristin.  

Raus aus der Enge

Tabea Steiner beschreibt die Zerrissenheit ohne große Dramatik. Auch die Liebe von Natali zu ihren Kindern bekommt durch die Nüchternheit der Worte eine immense Tiefe. So empört sich Natali, dass ihren Kindern in der Sonntagsschule genau die gleichen Ängste eingejagt werden, wie ihr selbst vor über dreißig Jahren. „Mit einem Magnet war er über Büroklammern aus Metall und Plastik gefahren und hatte gesagt, so wird es einmal sein, wenn Jesus wiederkommt. Er nimmt nur diejenigen mit, die wirklich an ihn glauben. Die anderen bleiben auf der Erde zurück, wie die Plastikklammern.“
Der Sonntagsschul-Lehrer Tobias und Natalis beste Freundin Rosalie bilden eine Parallel-Geschichte im Buch. Während das eine Paar sich trennt, findet das andere im Schoss der Kirche zusammen. Natali sucht sich eine eigene Wohnung und lässt die Kinder beim Ehemann und seiner Mutter zurück. Trotz allem Erlebten ist sie nicht bitter. Das wird bei einem ihrer Treffen mit ihrem Mann Manuel deutlich: „Das mit dieser Frau. Manuel schluckte leer, das ist eine Phase, ich weiß das einfach, und du weißt es auch. Er kam zu ihr hin, streckte ihr seine Hände entgegen, und du weißt, dass ich dich liebe. Natali tat einen Schritt auf ihn zu, lehnte ihren Kopf an seine Brust, und er setzte seine Finger an ihre Schulterblätter.“
Natali erkennt aber, dass sie den Kindern mehr für ihr Leben beibringen kann, wenn sie aus der kirchlichen Gemeinschaft austritt, als wenn sie dabeibliebe und vorgebe, als wäre das die einzig mögliche Wahrheit. Sie richtet ihr neues Leben ein, in der die Kinder ebenso Platz haben wie der Vater der Kinder. Nur die Kirche bleibt draußen. Beim Lesen wird klar, dass es keine Freikirche im Sinne einer Sekte sein muss, die den Menschen den freien Willen raubt, sondern jede Organisation mit strikten Regeln und Strukturen, an die man sich als Mitglied bedingungslos zu halten hat und in die man sich hineinbiegen muss. So erinnert die religiöse Gemeinschaft von Natali und Manuel teilweise stark an die katholische Kirche in den dörflichen Gemeinschaften von früher. Das weiße Hochzeitskleid steht für die Unschuld, wie schon das weiße Kommunionskleid als Braut von Jesus. Und ständig ist da die Angst vor der Hölle. So sagt Tochter Suli zu ihrem Schulfreund Massimo, „dass er in die Hölle kommt, weil er nicht an Gott glaubt, und seine Mutter auch.“ Das Ende des Buches „Immer zwei und zwei“ bleibt offen und bietet damit eine Fortsetzung an, denn: „so einfach ist das alles nicht“, wissen Natali und ihre Schöpferin Tabea Steiner. 

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/August 2023 erschienen.

Tabea Steiner: Immer zwei und zwei, Edition Bücherlese, 208 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, ISBN 978-3-906907-73-4, CHF 29 / EUR 27,50 / E-Book EUR 19