SilvrettAtelier: Ein Kunstlabor im hochalpinen Gelände
Neun internationale Kunstschaffende auf der Versettla
Zum mittlerweile vierzehnten Male hat die Kunst im Rahmen des SilvrettAteliers zu einem sprichwörtlichen Höhenflug angesetzt und zu einem Stelldichein auf rund 2 000 Meter Seehöhe geladen. Insgesamt neun Kunstschaffende haben sich auf der Versettla im Montafon zusammengefunden und sich mit verschiedensten Stil- und Ausdrucksformen mit den besonderen Gegebenheiten der hochalpinen Szenerie auseinandergesetzt.
Bereits zum fünften Male dienten dabei die Einrichtungen des Bergrestaurants „Nova Stoba“ als Basislager, um das hochalpine Gelände zu erforschen und nach Inspirationen zu durchkämmen, sowie als Kunstlabor, um die Ideen malerisch, skulpural oder medial umzusetzen. Vergangenes Wochenende präsentierten die Teilnehmer:innen ihre vielseitigen Werke. Dieses vom Schrunser Künstler Roland Haas initiierte und von Beginn an geleitete Kunst–Symposium im Hochgebirge ist einmalig und hat sich längst auch in der internationalen Kunstszene höchstes Renommee verschafft.
Die Erkundung von Natur und Berg, das Einlassen auf die geomorphologische Situation der Silvretta, vor allem auf die Beschaffenheit von Stein, Fels und Landschaft, die Auseinandersetzung mit architektonischen Eingriffen im hochalpinen Bereich wie etwa Seilbahn, Lift- und Beschneiungsanlagen oder Lawinenverbauungen, oder die heutigen Bedingungen und Probleme des Alpentourismus – den Kunstschaffenden aus Deutschland, USA, Polen, Italien, Spanien, Schweiz und Österreich bot sich ein weites Feld, um sich unterschiedlichsten Themen mit einer Vielfalt von Techniken anzunähern und künstlerische Statements zu setzen.
Der 1978 in Kösching (D) geborene und heute im polnischen Krakau lebende und arbeitende Künstler Michael Biber, der an der Akademie für Bildende Künste in München Schüler von Albert Ohlen, Sean Scully sowie Günther Förg war, schuf unter anderem eine großformatige, lichtdurchdrungene, surreale Acrylfarblandschaft, die wie eine abstrakte Impression wirkt. Dazu hat er aus gefundenen Schistöcken ein Gestell konstruiert, dass nicht nur als Rahmen und Hängevorrichtung für das Bild dient, sondern es auch ermöglicht, das Gemälde wie eine Skulptur im Raum zu präsentieren. Dazu hat er noch zwei kleinere Arbeiten gefertigt, die das Resultat eines Mix aus Frottagetechnik, Malerei und Collage mit im Gelände gefundenen Materialien sind.
Madrisella
Roland Haas, dem es wieder gelungen ist, eine sehr abwechslungsreiche Gruppe zusammenzustellen, nimmt wie immer auch diesmal wieder selbst am SilvrettAtelier teil. Mit Acryl und Spachtel schuf er ein überaus haptisches Bild des klassischen Pyramidenberges „Madrisella“. Zudem sammelte er verlorene Skitellerchen und formte diese zu einer vielfarbenen Kugel. Neben weiteren „geschichteten Bergzügen“ auf Japanpapier darf natürlich auch sein obligatorisches Bildtagebuch nicht fehlen. Jeden Tag hält er zu verschiedenen Tageszeiten den Blick aus dem Fenster in kleinen Aquarellbildern fest und erzeugt solcherart ein Kaleidoskip unterschiedlichster Stimmungen und Lichtsituationen.
Der Maler Michael Markwick lebt derzeit zwar in Berlin, stammt aber aus den Vereinigten Staaten. Er dürfte von der Situation auf der Versettla besonders angetan sein, denn der 1974 in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan geborene Künstler nimmt für seine Gemälde in der Regel die natürliche Umgebung als Ausgangspunkt. Jedoch ist er alles andere als ein traditioneller Landschaftsmaler. Vielmehr ist die Natur für ihn eine treibende Kraft und eine Energiequelle, ein Ort, an dem man das Leben in seiner Fülle und Vielfalt finden kann, die von Kälte und Grausamkeit bis hin zu raffinierter Schönheit und Spiritualität reicht. Das alpine Umfeld hielt er bei seinen Gängen in zahlreichen Farbskizzen fest, die er in seinem Berliner Atelier ins Großformat transferieren will. Seine ausgeformten Gemälde wirken auf den ersten Blick wie in einem abstrakten Expressionismus gehaltene Farberruptionen. Erst beim genauen Hinsehen kann man auch konkrete Inhalte erkennen.
Felsenzucker
Für die deutsche Objektkünstlerin Klara Paterok wurde mehr oder weniger die Küche der Nova Stoba zum Experimentierplatz. Paterok, die 1983 in Emmerich in Nordrhein-Westfalen zur Welt kam und an der Kunstakademie Düsseldorf studiert hatte, widmete sich im Bergrestaurant ganz und gar dem Zucker, respektive dem sogenannten Felsenzucker. Dabei handelt es sich um einen schaumig gekochten, kristallisierten, erkalteten und in unregelmäßig große Stücke zerbrochenen Zucker, der in Form und Struktur an kleine Felsbrocken erinnert. Unter Zuhilfenahme von Lebensmittelfarbe hat Klara Paterok ein ganzes Arsenal an bunten, porösen, mitunter formal auch stark an Korallen erinnernde Teile gegossen. Die Entstehung und die Auflösung der Formen in Wasser hat die Künstlerin auch in eindringlichen Videos festgehalten.
Neben Roland Haas war Andrea Salzmann die einzige Teilnehmerin aus Vorarlberg. Die 1979 in Bregenz geborene Künstlerin, die an der Akademie der bildenden Künste in Wien im Fachbereich Performative Kunst lehrt, verhandelt anhand ihrer Installationen im öffentlichen Raum, ihrer Skulpturen und ihrer performanten Aufführungen gesellschaftspolitische Fragen aus einer feministischen Perspektive. Für große Aufmerksamkeit sorgte sie etwa vor drei Jahren mit ihrem Projekt „No Border, No Nation“ für die CampusVäre, als sie entlang der Dornbirner Ache eine Installation aus 44 Fahnen errichtete, die für Solidarität und Grenzenlosigkeit stehen sollte. Auch auf der Versettla stellte sie Fahnen her. Diesmal allerdings aus gold-silbernen Rettungsfolien, die für ähnliche Anliegen stehen und etwa auch das Willkommensverhalten gegenüber Flüchtlingen thematisieren. Bei Unterkühlung können solche Decken Körperwärme geben. Abgesehen von diesen Fahnen suchte Salzmann täglich auch jeweils einen Stein und machte davon Abriebe auf Papier.
Aus der Schweiz angereist war Julia Steiner. Die 1982 in Büren zum Hof geborene Künstlerin, die unter anderem an der Hochschule der Künste Bern und an der Akademie der Künste Berlin studiert hatte und heute in Basel lebt, hat mehrere überdimensionale, an Landschaften erinnernde Gouache-Bilder in Schwarz-Weiß geschaffen. Üblicherweise sei sie viel abstrakter, sagt die Künstlerin, aber auf der Versettla sei sie vom Eindruck der Natur zwangsläufig beeinflusst worden. Wobei sie die schwarze Gouache ohne vorhergehende Skizzen auf einen weißen Papierbogen aufgetragen hat. Ihre Vorliebe für Gegensätze wie Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß, Dominanz und Fragilität, kommt auch hier zum Ausdruck. Durch den kraftvollen Auftrag der trockenen Farbe mit Borstenpinseln mal mit zeichnerischer Präzision, mal mit malerischer Unschärfe, erhält die Arbeit eine Leichtigkeit, die zwischen Unschärfe und gestochener Schärfe changiert. Steiner hat darüber hinaus mit Hilfe von hellen Garnen auch spinnennetzartige Gebilde mit Steinen als Mittelpunkt entwickelt, die sich über Stühle, Tische und die Wand entlang spannen und wie dreidimensionale Zeichnungen im Raum wirken.
Ach …
Der Südtiroler Künstler Thomas Sterna, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Meran sowie in Frankfurt am Main. Auf der Versettla hat er aus Tischplattenabfällen Formen ausgesägt und zu skulpturalen Gebilden zusammengefügt, die unter anderem auch als Zitat auf den Bauhaus-Meister Oskar Schlemmer zu interpretieren sind. Seine Hauptarbeit aber sind überdimensionale Buchstaben und Interpunktionen, die sich zum Ausdruck „Ach …“ zusammenfügen. Sterna hat die riesigen Buchstaben dreihundert Meter den Berg hoch geschleppt und in die Landschaft gelegt und natürlich das ganze Prozedere auch mit Video aufgezeichnet. Der Ausdruck „Ach…“ begleite ihn, den ausgebildeten Germanisten, schon seit langem, denn er komme immer wieder in den Werken von Heinrich von Kleist vor. In Anbetracht des globalen Chaos könnte man etwa sagen „Ach…“ im Sinne, wohin das alles noch führen wird. Oder ob noch eine rettende Kraft erscheint: „Ach…“, wenn es doch bloß so wäre.
Zeitlöcher
Das Bergrestaurant Nova Stoba verfügt über eine professionelle Kartonpresse. Die 1982 in Krakau geborene polnische Künstlerin Agnieszka Szostek hat sich dieses Gerät zu eigen gemacht und Altpapier und weggeworfene Kartons zu kompakten Ballen gepresst. Dann hat sie durch die Ballen zylinderförmige Löcher gebohrt und solcherart symbolische „time-holes“, also Zeitlöcher geschaffen. Auf die Kartons projiziert sie Fotos, die sie gemacht hat, und stellt auf diese Weise einen Bezug zur Außenwelt her. Szostek setzt sich in ihrem Schaffen immer wieder mit Identität und Identitätsverlust, mit Endlichkeit und Verletzlichkeit der menschlichen Existenz, oder allgemein mit der Conditio Humana auseinander
Die letzte Künstlerin des Nonetts, Irene G. Villanueva, wurde 1987 im spanischen Albacete geboren und lebt und arbeitet heute in Kematen an der Krems sowie in Linz. Villanueva, die letztes Jahr mit dem Kunstförderpreis der Stadt Linz ausgezeichnet wurde, setzte sich auf der Versettla unter anderem mit dem Tourismus auseinander. Auf eine aufgeklappte Silvretta-Karte schrieb sie zum Beispiel in großen Lettern den mehrdeutigen Satz „Tourismusgeld erschließt die Welt“. Die Spanierin verbindet auch gerne urbane Themen mit der Natur. In kleinen Gemälden verschränkt sie stilisierte Wolken und Landschaftselemente mit Piktogramm-artig umgesetzten künstlichen Dingen wie etwa Seilbahnteilen oder Schneekanonen. Einen trachtenartigen Bekleidungssatz hat sie in der Landschaft ausgelegt und mit Zahltäfelchen abgesteckt, so dass das Arrangement wie ein Tatort aussieht.
Große Ausstellung im Jänner
Etliche Kunstwerke sind im Rahmen des zweiwöchigen Aufenthaltes auf der Versettla bereits fertiggestellt worden. Viel Angefangenes wird aber von den Künstler:innen mit nach Hause genommen und in den nächsten Wochen in den eigenen Ateliers finalisiert. Die große Ausstellung mit sämtlichen geschaffenen Werken findet ab 17. Jänner 2025 im Künstlerhaus Bregenz statt. Die kleinere Schau (Best of SilvrettAtelier Montafon 2024) wird am 19.9.2025 im Kunstforum Montafon eröffnet.
SilvrettAtelier
Teilnehmer:innen: Michael Biber (D), Roland Haas (A), Michael Markwick (USA), Klara Paterok, Andrea Salzmann (A), Julia Steiner (CH), Thomas Sterna (I), Agnieszka Szostek (P), Irene G. Villanueva (E)
https://www.silvrettatelier.at/2024/