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Markus Barnay · 01. Feb 2023 · Literatur

Selbst-Befreiung eines Nazibuben – beklemmende Autobiografie des Komponisten Georg Friedrich Haas

„Die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich nach 1945 muss noch einmal geschrieben werden. Die historische Forschung wird sich dazu neuer Methoden bedienen müssen, denn diese Geschichte ist schriftlos. Schriftlos wie Steinzeit.” (Georg Friedrich Haas: „Durch vergiftete Zeiten”, S. 27) Es sind gewagte Sätze, die einer der bedeutendsten lebenden Komponisten Österreichs, der in Tschagguns aufgewachsene und heute an der Columbia University New York lehrende Georg Friedrich Haas, seinen vor kurzem erschienen „Memoiren eines Nazibuben“ voranstellt.

Ist es der historischen Forschung tatsächlich bisher entgangen, dass „Hunderttausende, ja vielleicht Millionen von Österreichern und Österreicherinnen“ auch nach 1945 „im Weltbild der Nazis verblieben sind“, wie Haas schon 2017 in einer Rede zum Festakt „50. steirischer herbst“ in Graz beklagt hat? Ist es nicht längst Konsens, dass es die vielbeschworene „Stunde Null“ nach der Befreiung von der NS-Herrschaft im Mai 1945 gar nicht wirklich gegeben hat? Dass bekennende Nationalsozialisten nicht nur in der Verwaltung der Dornbirner Messe und in den Chefetagen etlicher Textilbetriebe, sondern auch in der Justiz, den Krankenhäusern und in den Schulen weiter beschäftigt wurden? Dass „das Gros der verantwortlichen NationalsozialistInnen [...] nicht in Haft“ ging, wie Meinrad Pichler 2012 in seiner NS-Geschichte schrieb, und dass spätestens mit der Wiederzulassung aller „Belasteten“ zu Wahlen im Jahr 1947 das Buhlen der Parteien um die Stimmen der Nazis begonnen hat? Wer – wie der Autor dieser Zeilen – in den 1960er und 1970er Jahren eine Vorarlberger Schule besuchte, war fast zwangsläufig mit Lehrern konfrontiert, die ihre nationalsozialistische Gesinnung nur schwer verbergen konnten. Natürlich gab es sie nach wie vor, die Menschen, die von „Umerziehung“ schwafelten, wenn demokratische Werte angepriesen wurden, und man kann auch aktuelle Umfragen betrachten, wonach bis zu einem Drittel der Bevölkerung der Aussage zustimmen, dass es „einen starken Führer" geben sollte, „der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“ (s. www.demokratiemonitor.at), um festzustellen, dass der braune Ungeist noch immer weit verbreitet ist.

„Ein dumpfes Gerede von Ehre, Volk und Vaterland“

Es ist aber das eine, zu wissen, dass es diesen Bodensatz der Ewiggestrigen nach wie vor gibt, das andere, damit direkt konfrontiert zu sein – und damit ein Leben lang kämpfen zu müssen: „Meine Eltern haben mich zum Nazibuben erzogen. Der Schmerz und die Scham darüber, das Ausmaß an Gewalt und Missbrauch, dem ich ausgesetzt war, und die Erinnerung daran vergiften mein Leben bis heute”, schreibt Haas, und er verschweigt auch nicht, dass er bis in seine Studienzeiten an das Weltbild seiner Eltern und Großeltern glaubte. Er war aber offensichtlich zu intelligent, um auf Dauer an ein so verqueres Gedankengebäude zu glauben, wie es die Nazis vertraten: „In all den Jahren, in denen ich versuchte, mich mit der sogenannten Ideologie meiner Eltern zu identifizieren, konnte ich nicht herausfinden, was denn deren konkrete Inhalte waren. Da gab es nur ein dumpfes Gerede von Ehre, Volk und Vaterland, von abendländischer Kultur und Familie, das sich aber jeder Konkretisierung entzog. Heute ist mir klar: Der historische Nationalsozialismus bis zum Jahr 1945 war nichts anderes als ein organisierter Völkermord und millionenfacher Raubmord, verbrämt mit einem irrationalen Geschwafel von Rasse und Abendland. Wer sich nach 1945 noch als ,Nationalsozialist‘ oder ,Nationalsozialistin‘ bezeichnete, hatte nur eine einzige Motivation: den verzweifelten Versuch, diese Verbrechen zu leugnen, mit abstrusen Konstruktionen und Thesen die begangenen Taten schönzureden oder zu bagatellisieren und Möglichkeiten zu suchen, sich vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit seiner Verantwortung zu entziehen” (S. 37). Georg Friedrich Haas’ vom Historiker Oliver Rathkolb und vom Musikwissenschafter Daniel Ender herausgegebene Lebenserinnerungen kann man als Abrechnung mit Eltern und Großeltern lesen, die aus ihrer Gesinnung kein Hehl machten: Großvater Fritz Haas war ein bekannter Architekt und bis 1942 Rektor der Technischen Universität Graz und ebenso überzeugter Nationalsozialist wie sein Sohn und seine Schwiegertochter. „Mein Vater war kein Keller-Nazi, sondern ein Balkon-Nazi“, erklärte Haas dem profil-Journalisten Wolfgang Paterno im vergangenen November: „Er war stolz darauf, seiner nationalsozialistischen ‚Gesinnung‘ immer treu geblieben zu sein, und gab das öffentlich kund“ („profil“, 8.12.2022). Unter anderem waren Großvater und Vater (den Haas trotz aller Vorwürfe liebevoll als “Vati” bezeichnet) auch Mitbegründer und aktive Mitglieder des „Vereins deutscher Studenten”, einem Sammelbecken von Alt- und Neo-Nazis und Leugnern einer österreichischen Nation. Bei den Vorarlberger Illwerken, dem Arbeitgeber von Vater Haas, scheint sich daran jedenfalls niemand gestört zu haben. Und Großvater Fritz Haas blieb bis ins hohe Alter anerkanntes Mitglied der feinen Gesellschaft von Graz, wo die Familie ursprünglich daheim war.

Ein Kampf zwischen Wut und Verzweiflung, Empathie und Verständnis

Und doch trifft der Begriff „Abrechnung” nicht ganz zu: Es ist eher ein Sich-Abarbeiten an einer äußerst belastenden Vergangenheit, ein Kampf zwischen Wut und Verzweiflung, Empathie und Verständnis. Georg Friedrich Haas beschreibt in vielen kleinen Episoden, was er alles erleiden und erleben musste, wie man versuchte, ihn zu indoktrinieren, wie er gequält, geschlagen und – vermutlich – auch vergewaltigt wurde (die beiden diesbezüglichen Erinnerungen sind vage, aber plausibel, und betreffen sowohl einen Onkel wie auch Mitschüler). Er schreibt aber auch, dass er seiner Großmutter – ebenfalls bekennende Nationalsozialistin bis zum Tod – viel zu verdanken hat. Während des Studiums in Graz wohnte er bei ihr, und sie förderte ihn in seinen musikalischen Ambitionen. Und vor allem: „Sie war die Einzige unter meinen Eltern und Großeltern, die mir das Gefühl gab, geliebt zu werden.”
Georg Friedrich Haas ist Jahrgang 1953, kam in Graz zur Welt, und lebte als Kind zuerst in Latschau und dann in Tschagguns. Roland Haas, der Künstler, Jahrgang 1958, bestätigt die Erinnerungen seines großen Bruders, gesteht aber im Gespräch, dass er selbst mehr Glück hatte: „Bei mir haben es die Eltern bald einmal aufgegeben, mich zum Nazibuben zu erziehen. Aber versucht haben sie es auch.“ Und er berichtet auch, dass das Haus nach dem Tod der Eltern erst einmal von der verbotenen Literatur gesäubert werden musste, die sich dort angesammelt hatte. Die Memoiren von Georg Friedrich darf man denn auch als eine Art Reinigung, als Versuch einer Entgiftung verstehen – und nicht zuletzt als eine Art Hintergrundtext zu seinen Kompositionen. Immer wieder weist er im Buch darauf hin, unter dem Eindruck welcher Erlebnisse, welcher Emotionen oder welcher Erkenntnisse die eine oder andere seiner Kompositionen entstand: „Die Dunkelheit, die Trauer, die Verzweiflung, die ich in diese Musik hineinkomponiert habe – sie hat ihre Ursache in der Erinnerung an die Schuld, das Verbrechen, das Grauen, das in meiner Existenz mitschwingt” (S. 245).

„Alter Ego“ Jörg Haider

Haas erzählt aber auch, wer oder was ihn letztlich davor gerettet hat, ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie sein Kärntner „Alter Ego“ (Zitat GFH) Jörg Haider, der – aus vergleichbarem Elternhaus stammend, mit ähnlichen Begabungen ausgestattet – „zu feige“ war, „der Wahrheit ins Gesicht zu schauen“, und das betraf laut Haas nicht nur das Verdrängen der Nazi-Verbrechen, sondern auch das Verleugnen seiner Homosexualität gegenüber seiner Wählerschaft: „Viele von ihnen hätten seine männlichen Geliebten gerne im KZ gesehen, manche sogar ihn selbst – falls sie von seinem Sexualleben erfahren hätten” (S. 230). Georg Friedrich Haas bedankt sich – auch in der Widmung des Buches – vor allem bei seinem Freund Michael Konzett, dem langjährigen Obmann des Bludenzer Vereins allerArt, der ihm die Augen geöffnet habe. Außerdem beschreibt er die Begegnung mit der Mutter seines Hochschullehrers Iván Eröd, deren erster Sohn Endre von den Nazis ermordet wurde. Sie antwortete auf die eher beiläufige Frage, ob sie noch mehr Kinder habe: „,Nein. Ich hatte einen zweiten Sohn. Aber er ist im Zweiten Weltkrieg – – – – (sie machte eine lange Pause) – – – gestorben.’ Nie werde ich diese Pause vergessen. Sie entwickelte einen Sog, eine abgründige Kraft, als würde das Zimmer und mit ihm das ganze Universum sich im Kreis drehen und wie von einem Strudel erfasst in die Tiefe stürzen. Ja, es war ,die Pause’, von der ich später erzählen hörte, wenn Überlebende des Holocaust das Unfassbare in Worte zu fassen versuchten” (S. 41). Was seinen musikalischen Werdegang betraf, nennt er außerdem den Kompositionspädagogen Gösta Neuwirth, aber auch seinen Gymnasiallehrer Gerold Amann („eine Lichtgestalt im Lehrkörper”) als prägende Persönlichkeiten.

„Sklavin“ und Meister im Film

„Durch vergiftete Zeiten” ist das Ergebnis einer mehrjährigen Aufarbeitung seiner Lebensgeschichte, die Georg Friedrich Haas nach dem Umzug nach New York (2013) begann und die er schon in einzelnen Interviews (z. B. 2016 in der „ZEIT") und in der erwähnten Rede in Graz (die auch im Buch abgedruckt ist) thematisierte. In der „ZEIT“ äußerte er sich auch erstmals zu seinen sexuellen Neigungen, die er lange unterdrückt hatte und erst in New York mit seiner vierten Frau, der Autorin und Sexualpädagogin Mollena Williams-Haas, ausleben durfte: Sie führen eine BDSM-Beziehung. Was das bedeutet, lässt sich so beschreiben: Sie ist seine „Sklavin“ und Muse, er ihr Meister. Wer es noch etwas genauer wissen will, sollte sich „The Artist & The Pervert” anschauen, der im Februar zweimal im Spielboden-Kino gezeigt wird. Der Film wurde in Österreich erst einmal vorgeführt – im Rahmen des „Porn-Film-Festival” 2018 in Wien. Wer sich einen Porno erwartet, wird allerdings enttäuscht werden: Es handelt sich um eine Dokumentation, die das Paar ein Jahr lang in seinem Alltag begleitet – vom privaten Haushalt bis zur Premiere eines Konzertes von Georg Friedrich Haas. 

Georg Friedrich Haas: Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben. Hrsg. von Daniel Ender und Oliver Rathkolb. Böhlau Verlag, Wien 2022, Hardcover, 296 Seiten, ISBN: 978-3-205-21640-7, € 42

Film: „The Artist & The Pervert“ von Beatrice Behn und René Gebhardt (2018)
2./14.2, 19.30 Uhr
Spielboden, Dornbirn