Kris Lemsalu im Magazin 4 im Rahmen des Bregenzer Kultursommers (Foto: Magazin 4)
Anita Grüneis · 08. Jun 2024 · Literatur

Seine Ideen waren immer irgendwie extrem

Zwei neue Bücher anlässlich des zehnten Todestags von HR Giger

„Als Kind sah der Monster-Meister aus der Schweiz brav aus“, so titelte eine Schweizer Boulevardzeitung ihren Artikel über das Festjahr, das die Stadt Chur ihrem berühmten Künstler Hans Ruedi Giger zu dessen zehntem Todestag mit mehreren Ausstellungen ausrichtet. Dazu erschienen im Verlag Scheidegger & Spiess auch zwei Bücher: „HR Giger. Die frühen Jahre“ und „HR Giger The Oeuvre Before Alien 1961–1976“.

Während das eine seine Kindheit in den Bündner Bergen beschreibt und die Zeit von 1940 bis 1962 bebildert, zeigt das andere mit vielen Abbildungen auf, dass HR Giger bereits ein Shootingstar der europäischen Kunstszene war, bevor er für seine Mitwirkung am Film „Alien“ weltberühmt wurde und 1980 dafür einen Oscar in der Kategorie „Beste visuelle Effekte“ erhielt. 
HR Giger wurde am 5. Februar 1940 als Sohn eines Apothekers in Chur geboren. Nach Abschluss des Gymnasiums absolvierte er eine Bauzeichner-Lehre und studierte ab 1962 Innenarchitektur an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Dort blieb er auch Zeit seines Lebens. Zu seinem 50. Geburtstag wurde er ins Schloss Gruyeres eingeladen, um eine Retrospektive seiner Arbeiten zu zeigen, was über 100.000 Besucher anlockte. Der Künstler selbst verliebte sich in die Gegend, kaufte das Schloss St. Germain und richtete dort ein Museum für phantastische Kunst ein, das 1998 eröffnet wurde. Am 12. Mai 2014 starb HR Giger in einem Zürcher Krankenhaus an den Folgen einer Sturzverletzung. Begraben ist er auf dem Friedhof von Greyerz im Kanton Freiburg.

Der schwierige Sohn der Stadt Chur

Über Gigers Kindheit und Jugend in seiner Heimatstadt Chur ist nur wenig bekannt. „Die Stadt Chur hatte ein ambivalentes Verhältnis zu HR Giger. Sie hatte Mühe damit, eine Welt zuzulassen, vor der man sich fürchtet“, meinte Stadtrat Patrik Degiacomi bei der Eröffnung des Gedenkjahres. Umso mehr ist aus dem Buch „HR Giger. Die frühen Jahre“ zu erfahren. Zusammengestellt hat es Charly Bieler, der mit HR Gigers ersten Ehefrau Mia Bonzanigo verheiratet ist. Diese fand beim Ausmisten zahlreiche Fotos aus der Kindheit bis hin zur Adoleszenz von HR Giger. Dadurch entstand die Idee für ein neues Buch. 
Alle Texte im Buch sind in deutsch/englisch/französisch abgedruckt, unterteilt sind sie in die Themen Kindheit, Teenager-Jahre, Adoleszenz, Familie, Zeitzeugen und ein weiteres Kapitel ist Gigers späteren sporadischen Besuchen in Chur gewidmet, wo unter anderem im Februar 1992 die außergewöhnliche Giger-Bar entstand, bis heute ein Magnet für alle Fans des Künstlers.

Kindheit in den Bündner Bergen

Die Kindheit zeigt viele Fotos mit der sieben Jahre älteren Schwester Iris in den Bündner Bergen. Der Vater hatte beschlossen, die Familie während des Krieges in der Alp „Foppa“ oberhalb des Dorfes Flims in Sicherheit zu bringen; er selbst blieb in Chur. Den Kindern gefiel das Leben ohne Zwänge und in der freien Natur. 1945 kam Hansruedi in den katholischen Kindergarten, wo die Nonnen den unartigen Kindern Bilder vom blutenden Jesus-Kopf mit der Dornenkrone als Druckmittel gaben: „So muss Jesus wegen dir leiden.“ Dies erschreckte Hansruedi zutiefst und seine Eltern beschlossen, ihn in einen konfessionslosen Kindergarten zu schicken. Beschrieben wird im Buch auch HR Gigers Vorliebe für das Rätische Museum – für ihn eine Welt voller Geheimnisse. Dazu gehörte zum Beispiel der Sarkophag mit der Mumie einer ägyptischen Prinzessin. Der Zehnjährige zeichnete damals bereits selbst, abgedruckt sind seine farbigen Micky-Maus-Bilder.

Das Zeichnen und die Waffen

Die Teenager-Jahre sind eher kurzgehalten, die Zeit am Gymnasium ab 1953 war nicht einfach, Hansruedi war kein guter Schüler, einzig im Fach Zeichnen brillierte er und so wurden seine ersten Werke in der Schülerzeitung „Sprachrohr“ abgebildet. Ein Bild aus dem Jahr 1961 entsetzte die Lehrer so sehr – es sei pure Pornografie –, dass sie den Vertrieb des Heftes verboten. Seine Mitschüler aber waren fasziniert von der Zeichnung. Der Künstler hatte ein Manifest dazu geschrieben: „In Vertretung der Atomkinder“. 1967/68 entstand dann das Bild „Atomkinder“, das heute als „typischer Giger“ zu erkennen ist und schon die Lust an skelettartigen Aufbauten erkennen lässt. 
Während der Gymnasialzeit jobbte er als Tankwart, um seine Waffensammlung zu erweitern. Angeblich schmuggelte er in einem ausgehöhlten Buch stets einen Revolver mit in die Schule. Seine Faszination für Waffen begann durch seine Cousins, die am Bodensee wohnten. Sie unterrichteten HR Giger in der Jagd nach Vögeln, Hühnern und Fischen mit Pfeil und Bogen, er lernte aber auch mit dem Gewehr umzugehen. Aus diesen Ferientagen brachte er eine Sammlung von Messern, Dolchen, Revolvern etc. mit nach Hause. Da auch mehrere Schulkameraden dem Waffenvirus verfallen waren, begann ein lebhafter Tauschhandel. Auf dem Churer Militärgelände schossen die Jugendlichen dann mit selbstgegossenen Kugeln und sprengten mit selbstgemischtem Sprengstoff. Giger selbst verlor das Interesse an Waffen nach seiner Rekrutenzeit.

Die Zeit des Rock ‘n‘ Roll

Im Jahr 1956 wurde in Chur der erste Rock ‘n‘ Roll Keller der Schweiz eröffnet. Hansruedi Giger, damals 16 Jahre alt, war von der Musik begeistert und fotografierte die Szenerie. Er selbst spielte Sopransaxofon und Klavier und baute sich in seinem Elternhaus ein schwarzes Zimmer, das bis 1962 existierte. Es war einer ägyptischen Grabkammer nachempfunden. Dort wurde nun im Kerzenschein zu Musik von Miles Davis, John Coltrane etc. getanzt, geraucht und geliebt. Im Buch sind etliche Fotos von diesem Zimmer zu finden. Bea Levine-Humm, eine Schulfreundin, sagt über diese Zeit: „Schon in der vierten Klasse hab ich sein schwarzes Zimmer kennengelernt. Ich erinnere mich sehr gut an seine Schulhefte, die er mit verstümmelten Föten vollkritzelte. Seine Atombombenangst war die Quelle dieser Inspiration. Er sprach oft verzweifelt über die Atombombe von Hiroshima. Er litt unter einem diesbezüglichen wahren Trauma, was später in seinem Atom-Manifest, welches er für die Schulzeitung verfasste, zum Ausdruck kam. Mir kam er als scheuer Mensch vor, der oft traurig wirkte.“ Mit der 16-jährigen Helen Schneider erlebte HR Giger sein erstes „Vortasten in die Welt des Eros“. Dazu schreibt sie im Buch: „Er besaß die Fertigkeit, einen Revolver zu bauen, und goss die Munition dazu selbst. Seine Ideen waren immer irgendwie extrem“.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juni 2024 erschienen.

HR Giger. Die frühen Jahre, Hrsg. v. Charly Bieler. Scheidegger & Spiess, Zürich 2024, 192 Seiten, 82 farbige und 153 s/w-Abbildungen, Hardcover, ISBN 978-3-03942-196-1, € 48, SFR 49

HR Giger. The Oeuvre Before Alien 1961–1976, Hrsg. v. Beat Stutzer, Bündner Kunstmuseum Chur, Scheidegger & Spiess, Zürich 2024, 168 Seiten, 117 farbige und 17 s/w-Abbildungen, Broschiert, ISBN 978-3-03942-136-7, € 48, SFR 49