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Kurt Bracharz · 25. Nov 2019 ·

Romolfs werden in Klimpzirkeln gelesen - Kathrin Passig über den Einfluss des Internets auf das literarische Schreiben

Kathrin Passig ist eine deutsche Sachbuchautorin, die 2006 den Ingeborg-Bachmann-Preis mit einer für diesen Wettbewerb konstruierten Kurzgeschichte gewonnen hat. Diese Erzählung gewann auch den Kelag-Publikumspreis, was bemerkenswert ist, weil Jury- und Publikumsgeschmack meistens weit auseinander liegen. Dass Passig mit ihrem Text beide Gruppen überzeugen konnte, spricht für ihre schriftstellerische Potenz. Sie ist aber bei ihrem Leisten geblieben und schreibt, meist zusammen mit Co-Autoren, im Internet und in Büchern die meiner Einschätzung nach lesenswertesten deutschsprachigen Texte zu Internetthemen.

Ihr neues Buch „Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik“ (Droschl) enthält ihre „Grazer Vorträge zur Kunst des Schreibens“ (der Titel der Reihe), in denen es um den Einfluss des Internets auf das literarische Schreiben geht. Die Texte sind für den Druck verändert, der erste fängt so an: „Der Vortrag, auf dem dieser Text beruht, begann mit dem Video eines Eichhörnchens, das versucht, eine Eichel im Fell eines großen Hundes zu vergraben. Das Hundefell eignet sich dafür nicht so gut, die Eichel fällt immer wieder heraus, aber das Eichhörnchen versucht es weiter. Der Hund, sagte ich, sei das Internet und die Eichel der vorhandene Literaturbegriff. Man bemüht sich ausdauernd, ihn irgendwie im Internet unterzubringen, aber es will nicht so richtig klappen.“ (S. 5)
Hier wird gleich zu Beginn ein Wort eingeführt, von dessen Verständnis viel abhängt: „der vorhandene Literaturbegriff“. Ich vermute, dass mein Literaturbegriff dieser „vorhandene“ ist: Unter Literatur verstehe ich nicht-triviale Sprachkunstwerke. In der Literatur gibt es einen ausgedehnten trivialen Sektor, nämlich die Unterhaltungsliteratur, deren Lektüre niemals ein Problem bedeutet. Für sie gilt zwar Sturgeons Offenbarung „Neunzig Prozent von allem sind Mist“,  aber natürlich gibt es darunter auch Romane, die sophisticated sind und eine kluge Lektüre ermöglichen. Sie haben aber keine Substanz. Einmal Lesen genügt, das ist ihr Erkennungszeichen. Als Beispiel guter Trivialromane würde ich jene von Robert Harris (nicht zu verwechseln mit Thomas Harris!) anführen. Als Beispiel für nicht triviale Romane den unübertrefflichen Vladimir Nabokov.

Bedeutende Veränderungen beginnen langsam

Passigs Argumentation läuft darauf hinaus, dass bedeutende Veränderungen sehr langsam anlaufen, zu Beginn nicht erkannt und verstanden werden (können) und folglich ihre Auswirkungen nicht vorhersehbar sind. „Denn allen Reden von der Beschleunigung und der Beschleunigung des Beschleunigungstempos zum Trotz vollziehen sich die meisten Veränderungen überhaupt nicht schnell. Von den ersten Fotos bis zur allmählichen Etablierung der Fotografie als Kunstform vergingen fünfzig bis hundert Jahre. Das Internet ist außerhalb der Universität erst seit knapp 25 Jahren zugänglich, vor zwanzig Jahren machte ein einstelliger Prozentsatz der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum davon Gebrauch. Das Netz hatte also erst seit zehn bis fünfzehn Jahren Gelegenheit, die Schreibgewohnheiten und Einstellungen einer nennenswerten Anzahl von Autorinnen und Autoren zu beeinflussen.“ (S. 31)
Für die intellektuelle Ejaculatio praecox gegen das Internet gibt Passig ein Beispiel, einen Beitrag 1998 von Christian Benne in der Wochenzeitung „Die Zeit“, der – im Nachhinein betrachtet – nur aus Fehleinschätzungen besteht. Benne schrieb: „Und hier ist schließlich der entscheidende Grund, warum der Internet-Literatur, in welcher Form auch immer, kein Erfolg beschieden sein kann: Noch viel weniger als das Buch wird sie in der Lage sein, eine moderne literarische Öffentlichkeit zu schaffen. Im Netz sind, allen Chats zum Trotz, Lektorat und konstruktive Kritik so unvorstellbar wie ein WWW-Äquivalent zu dem Tisch mit den Neuerscheinungen.“ (S. 10)
Passig erledigt solche Sprüche mit Fakten: „1998, in dem Jahr, in dem Bennes Artikel erschien, nutzten etwa 10 Prozent der in einer ARD-ZDF-Onlinestudie Befragten das Internet ,zumindest gelegentlich’. Nach täglicher Nutzung wurde erst ab 2003 gefragt, zu diesem Zeitpunkt tat das etwa die Hälfte der Zumindest-Gelegentlich-Nutzer. 1998 werden es also bestenfalls fünf Prozent der Gesamtbevölkerung gewesen sein, die zumindest theoretisch die Gelegenheit dazu gehabt hätten, sich literarisch im Netz zu betätigen.“ (S. 13)
Auch zur von den Feuilletonisten abgelehnten Vorstellung, man könne im Internet besser literarisch kollaborieren als mit den früher zur Verfügung stehenden Mitteln, hat Passig eine Jahreszahl parat: „Doch selbst wenn die möglichen Verfasser kollaborativer Romane aufgeschlossener für Innovationen wären: Rein technisch ist das gemeinsame, gleichzeitige Schreiben an Texten erst seit der Einführung von Google Docs Ende 2005 einigermaßen reibungslos und benutzerfreundlich geworden. Alle bis dahin verfügbaren Lösungen waren unattraktiv für alle, die an Standard-Textverarbeitungssysteme gewöhnt waren. Auch 2018 steht der Umstellungsprozess noch am Anfang.“ (S. 34)
Man kann der ersten Hälfte von Passigs Ausführungen zustimmen, also dem Teil darüber, was bisher geschah: Tatsächlich ist die Idee einer literarischen Kollaboration im Internet kritisiert und abgewertet worden, bevor die Voraussetzungen dazu überhaupt gegeben waren. Selbstverständlich hatte auch niemand wirkliche Erfahrungen damit, die Ablehnung gründete nur auf Gefühle.
Aber jene Haltung, die im vorsichtigen Titel des Büchleins ihren Ausdruck findet, steht auch nicht auf festerem Boden. Passig wird nicht müde zu versichern, dass man Entwicklungen nicht vorhersagen kann, was sie mit Beispielen aus der Vergangenheit belegt, wo nie ein Mangel an unangebrachtem Selbstbewusstsein herrschte. Die berühmteste Fehlprognose war wohl die des IBM-Direktor Thomas J. Watson 1943: „Ich glaube, es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer.“ Ausführliches Material zur Fehleinschätzung von Eisenbahn und Telefon, von Tonfilm und Internet findet man in Passigs 2013 erschienenen Suhrkamp-Bändchen „Standardsituatonen der Technologiekritik“, edition unseldt 48.

Die Technik ist da, wo bleiben die Werke?

Für das Entstehen von Literatur im Netz ist aber mittlerweile vermutlich alles benötigte Werkzeug da, und einen Internetzugang hat jetzt praktisch jeder. Wo bleiben die Werke?
Passig erwähnt die Entstehung der Drehbücher für Fernsehserien. Hier gibt es einen Head Writer, dem Mitarbeiter ihr Material zuliefern. Zum Beispiel schreiben Dialoge jene Leute, die das am besten können. Sie brächten vielleicht keine Personen- oder Landschaftsbeschreibungen zusammen. Der Einzelkünstler muss alles selbst produzieren, auch die Dialoge, bei denen er möglicherweise Schwierigkeiten hat, die Sprechenden realistisch voneinander unterscheidbar zu machen. Aber auch diese Art, kollaborativ zu arbeiten, führt wohl nicht zu großen Sprachkunstwerken, auch wenn die Art, wie Tony Soprano (im Original!) mit seiner Psychotherapeutin sprach, als optimal realistisch galt.
Passig kommt unweigerlich auf Textautomaten zu sprechen und hat den Twitterbot „Gomringador“ gebaut, der das durch Zensurmaßnahmen allgemein bekannt gewordene Gomringer-Gedicht von der Fassade der Alice-Salomon-Schule in Berlin variiert: „Seitdem twittert der Bot mehrmals täglich ein Gedicht in der leicht nachahmbaren Struktur des Avenidas-Gedichts. Twitter eignet sich dafür, weil ein Gedichtband voller Avenidasse sehr langweilig zu lesen wäre, ein gelegentlich im großen Twitterstream vorbeischwimmendes Gedicht dieser Bauart aber erfreulich sein kann. Technisch war das nur möglich, weil ein halbes Jahr zuvor die Zeichengrenze bei Twitter von 140 auf 280 Zeichen angehoben worden war, was die Lyrikproduktion, die sich bis dahin auf Haikus beschränkt hatte, umgehend ankurbelte. [...] Die Gedichte des Gomringador sind nicht besonders gut. Ich sage das dazu, weil ich mich selbst oft ärgere, wenn Leute, die Kunst unter Beteiligung von Computern hervorbringen, mir irgendein banales Gekrakel als bedeutungsvolles Werk anpreisen.“ (S. 76f)
Passig ist sich also im klaren, dass zumindest vorläufig durch das Internet verwendende Methoden keine Poesie entsteht, sondern literarische Experimente, wie man sie ohne Computerbeteiligung seit langem kennt. Wie sie zur Literatur steht, scheint mir ein Zitat bezüglich des Computer-skeptischen Autors Jonathan Franzen zu belegen: „Ich weiß nicht mehr, ob ich das vor langer Zeit gelesene Buch – es handelte sich um ,The Corrections’ – gut oder schlecht fand, habe also keine Meinung zu Franzen als Autor.“ Mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste, aber ich weiß von jedem literarischen Roman, den ich gelesen habe, wie ich ihn fand. Vielleicht denke ich deshalb, das „Neue“ sei wahrscheinlich eher unerfreulich. Passig schreibt, dass sich in fünfzig oder hundert Jahren etwas durchgesetzt haben wird: „Das Genre des Romolfs, der Vertriebsweg des Zenkens, die Leseweise in Klimpzirkeln“. Das kann gut sein, aber vielleicht reicht kein Romolf, ob nun gezenkt oder geklimpert, an „Lolita“ oder „Fahles Feuer“ heran.

Kathrin Passig, Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik, Wien, Literaturverlag Droschl 2019, 120 Seiten, ISBN: 978-3990590294, € 15