Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Anita Grüneis · 16. Sep 2023 · Literatur

Ritt auf der Wildsau

Ein Kunstbuch durch und durch von Rachel Lumsden

Die seit einigen Jahren in Schaan wohnhafte Künstlerin Rachel Lumsden hat die Zeit während der Pandemie genutzt, um ein Buch zu schreiben, das nicht nur äußerst vergnüglich zu lesen ist, sondern auch viel Wissenswertes über die Karriere einer Malerin, den Kunstmarkt und die Kunst selbst vermittelt. „Ritt auf der Wildsau – Manifest für die Malerei“ ist eine kluge Kombination aus Satire, Analyse und Gebrauchsanleitung zur Malerei der Gegenwart. Obwohl keine einzige Abbildung enthalten ist, wirkt das Buch selbst wie ein Kunstwerk mit seiner Eigenwilligkeit in Format und Stil.

Vorab ein paar Worte zur Autorin: „Malen ist mein Zugang zum Leben der Sinne. Meine Möglichkeit, mich als Erwachsene immer und immer wieder mit Welten zu verbinden, mit dem Vergangenen, mit dem Gegenwärtigen und dem noch nicht oder niemals Geformten“, schreibt die heute 55-jährige Rachel Lumsden, die in Newcastle upon Tyne geboren und in Großbritannien aufgewachsen ist. Sie absolvierte ihren BA Fine Arts an der Trent University of Nottingham und schloss ihre Ausbildung mit dem Postgraduate MA in Malerei an der Royal Academy of Arts Schools in London ab. 2001 kam sie in die Schweiz, ihr Umzug war „holprig“: „Als Künstlerin mit Fokus auf figurative Malerei – in England bezeichnet als ,painters’s painter‘ – hatte ich mir in London zäh und mit viel Einsatz einen Weg in den Randbereich des Kunstbetriebs gebahnt. In der Schweiz hingegen verwandelte ich mich über Nacht in eine der zahlreichen Arztgattinnen, die sich die Malerei zum Hobby erkoren hatten.“

Das Bestiarium der Mächtigen

Doch die Künstlerin setzte sich durch. 2005 erhielt sie von der Kulturabteilung der Stadt St. Gallen Fördergelder für ein Projekt und zudem ein Ausstellungsangebot von einer angesehenen Galerie. Als sie dem Galeristen allerdings kein Verfügungsrecht über ihr sämtliches – auch das frühere – Werk einräumte, reagierte dieser etwas verschnupft. Diese und andere Erfahrungen ließen Rachel Lumsden ein „Bestiarium der Kunstmächtigen“ erstellen, in dem sie die „Fabelwesen“ der Kunst kategorisierte: „Die beständige Gärtnerin“, „Der Lippenblütler“, „Die durstige Seele“, „Der müde Graf“ und „Das trojanische Pferd“. Den Kunstbetrieb selbst vergleicht sie mit dem „Leiterli“-Brettspiel (engl. „snakes and ladders“), bei dem Leitern ein rascheres Vorwärts- und Höherkommen ermöglichen. Zudem bezeichnet sie die Kunstwelt als eine Kampfzone, die „metaphorisch gesprochen, genauso blutrünstig wie die Natur oder die Politik“ ist und vergleicht sie mit der hierarchischen Struktur von Motorrad-Clubs und ihren Klassen der Zugehörigkeit. „Zuoberst regiert der allmächtige ,Presi‘ – der Präsident. Unter ihm finden wir die ,Members‘, die Kunst und Blutsbrüder, für die man alles tut, und die umgekehrt alles für den Club tun. Es folgen die ,Prospects‘, die Kandidaten, die auf der Seitenlinie darauf warten, als vollgültige ,Members‘ in den Club aufgenommen zu werden [...] an der Basis der Pyramide, weit unter den ,Prospects‘, rangieren die ,Hangarounds‘, das nützliche und als Publikum geduldete menschliche Mobiliar, das zur eigenen Erbauung anwesend sein darf, aber niemals in den Genuss der Vorteile der höheren Klassen kommen wird.“ Die Beschreibung der ,art beasties‘ ist süffisant formuliert und man spürt beim Lesen die Erfahrungen der Künstlerin aus erster Hand.

Das Weitergeben und die Geschlechterrollen

Von 2007 bis 2019 arbeitete Rachel Lumsden als Dozentin an der Hochschule Luzern. „Meist kam ich vom Unterrichten voller Hoffnung nach Hause, Hoffnung für diese jungen Leute und für das, was sie mit sich in die Welt bringen würden. Das ist auch der Grund, warum ich als Dozentin oft den Eindruck hatte, meine Hauptaufgabe sei es, eine Art unsichtbare Kuppel hochzustemmen, unter der sie sowohl den Raum als auch den Ort für ihre unabsehbaren Entwicklungen fänden. Denn Kunstausbildung geschieht nicht linear, sondern lateral. Es sind die lateralen Prozesse, die es erlauben, im Hirn und den kreativen Bereichen neue Pfade zu schaffen.“
Ein weiteres Kapitel des Buches ist den Geschlechterrollen im Kunstbetrieb gewidmet. Die Autorin verwendet dazu die „Heldensage“ um den Recken, der es „dank seines stupenden Talents vom Hirtenjungen zum Künstlerfürsten bringt und so die erdverbundenen Kräfte mit der höfischen Hochkultur legiert“. Demgegenüber stellt sie die „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, die für das Leben einer Kunstfrau drei mögliche Rollen bedeuten: die der Shootingstar-Debütantin, der verlässlichen Kunstbesorgerin oder der Grande Old Dame. Das künstlerische Genie ist also männlich und Lumsden zitiert den Kritiker Alfred Schmeller, der in den 1960er Jahren in der Zeitung „Kurier“ die „Männlichkeit“ der Arbeiten Maria Lassnigs in höchsten Tönen pries und sie als eine Malerin, die „in ihrer Natürlichkeit eigentlich sehr männlich“ ist, bezeichnete. Diese Sichtweise prägt den Kunstmarkt bis heute, auch 2010 war ein Kurator fasziniert von einer Serie von Bildern, welche „eine männliche Qualität ausströmen“. Er wusste nicht, dass sie alle von Rachel Lumsden gemalt waren.

Wie wirkt Kunst?

Doch auch in das Wesen der Kunst ist die Künstlerin tief eingetaucht und berichtet von ihren Forschungsergebnissen: „Was tut ein fertiges Bild? Es führt die Augen in Schlaufen wiederholt über seine Oberfläche. Dieses visuelle Schweifen über gemalten Grund bewirkt, was Bewegung immer bewirkt, sei es im Gehen, Fahren oder Bereisen einer Leinwand: Innere Prozesse kommen in Gang, Prozesse im Auge beim Anfeuern von Sehstäbchen und -zäpfchen, Prozesse zwischen der Netzhaut und dem Sehnerv, Prozesse zwischen Sehnerv und Hirn, sodass Denken, Gedächtnis, Erfahrung stimuliert werden und, mittendrin, die Emotion. Denn wer kann sehen und denken, ohne gleichzeitig zu empfinden? In diesem flimmernden Hin und Her zwischen Bild, Augen, Hirn und Psyche, in dieser quantenphysikalischen Falte zwischen Farbmaterie und Darstellung, befinden wir uns weder ganz bei der Materialität noch ganz beim Dargestellten, weder ganz in unserer eigenen Innenwelt noch ganz im Außen, sondern schweben im Dazwischen, in der ,time out of time‘.“
Rachel Lumsden schrieb das Buch in Englisch, es wurde von Stefan Sprenger, dem bekannten Liechtensteiner Autor, kongenial übersetzt und ist dadurch auch auf Deutsch ein großes Lesevergnügen, da es Wissen mit Erfahrung vereint und beides auf humorvolle Art weitergibt. Im Jahr 2011 erhielt Rachel Lumsden übrigens den Internationalen Kunstpreis des Landes Vorarlberg. Die Begründung der Jury: „Ohne Hysterie und Sentimentalität veranschaulicht Lumsden, dass zwischen dem Vertrauten und dem Bedrohlichen, zwischen dem Nützlichen und dem Schrecklichen, dass zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, zwischen Gelingen und Versagen oft nur ein schmaler und häufig überschrittener Grat verläuft.“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2023 erschienen.

Rachel Lumsden: Ritt auf der Wildsau – Manifest für die Malerei. Verlag Scheidegger& Spiess, Zürich 2023, 208 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-03942-145-9, € 29,90
Englische Ausgabe: Rachel Lumsden: Igniting Penguins – A Manifesto for Painting.