"Mit einem Tiger schlafen": Anja Salomonowitz‘ Spielfilm über die Künstlerin Maria Lassnig derzeit in den Vorarlberger Kinos (Foto: Stadtkino Wien Filmverleih)
Michael Pekler · 14. Sep 2023 · Film

Neu in den Kinos: „Fallende Blätter“

Eine zartbittere Tragikomödie über zwei Seelenverwandte, die den Widrigkeiten zum Trotz zueinander finden: Auch in seinem mittlerweile zwanzigsten Film, in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, erweist sich Aki Kaurismäki als sanftmütiger Optimist.

Eine Frau und ein Mann sitzen an einem kleinen Tisch einander gegenüber. Die Frau hat den Mann zu sich nach Hause eingeladen, der Mann hat einen einfachen Blumenstrauß mitgebracht, der nun den Tisch mit weißer Häkeldecke schmückt. Die Frau trägt ein rotes Kleid, der Mann ein blassgelbes Hemd, es sind dieselben Farben wie das Essen und die Blumen. Nachdem die Frau dem Mann erklärt, was man unter einem Aperitif versteht, ist die kleine Flasche Sekt schnell geleert. Und Digestif habe sie keinen. Darüber hinaus gibt es wenig zu besprechen. Als sie wenig später den Mann dabei beobachtet, wie er heimlich einen Schluck aus der in seiner Jacke versteckten Schnapsflasche nimmt, erklärt sie ihm, dass ihr Vater und Bruder sich zu Tode getrunken hätten und die Mutter daraufhin aus Kummer gestorben sei. Sie würde ihn wohl mögen, aber einen Säufer nehme sie nicht. Worauf der Mann entgegnet, dass er sich nichts sagen lasse, seine Jacke anzieht und grußlos verschwindet.
Wie auf den ersten Blick zu erraten ist, handelt es sich bei „Fallende Blätter“ („Kuolleet Lehdet“) um einen Film von Aki Kaurismäki. Und zwar um einen Liebesfilm, der vom Kennenlernen und der vorsichtigen Annäherung zweier Menschen erzählt, die sich Armut und Unrecht zum Trotz ihren Stolz bewahrt haben. Eine innere Kraft, die es ihnen nicht erlaubt, sich unterkriegen zu lassen – und die sie letztlich zueinander führt.
„Fallende Blätter“ beginnt wie jeder Film des finnischen Ausnahmeregisseurs damit, dass ein Mensch aus seinem Lebenszusammenhang gerissen wird. Wie ein fallendes Blatt, das sich im Herbst von einem Zweig löst. Ansa (Alma Pöysti) arbeitet in einem Supermarkt und muss abgelaufene Lebensmittel in den Müllcontainer entsorgen. Als sie einem Hilfsbedürftigen etwas abgibt und sich selbst ein Sandwich in die Tasche packt, wird sie fristlos entlassen. So wie der Schweißer Holappa (Jussi Vatanen), der verbotenerweise während der Arbeit zur Flasche greift. In einem Karaokelokal lernen Ansa und Holappa einander kennen, indem sie – wie es sich für Liebende in Kaurismäki-Filmen gehört – wortlos nebeneinander sitzen. Ein vom Winde verwehter Zettel mit einer Telefonnummer, ein gemeinsamer Kinobesuch mit Außenseitern auf der Leinwand als Hommage an das Kino der Untoten. Ein Verlust. Eine neue Arbeit. Eine neue Hoffnung. Und ein Hund mit einem als Schlusspointe dienenden Namen.

Parabel über das Überleben

„Fallende Blätter“ ist so schnörkellos erzählt wie jeder bisherige Film von Kaurismäki, einzigartig in seinem Stil, seinen Farben und Dialogen, unverwechselbar in seiner auf ein Minimum reduzierten Gestik und Mimik der Figuren – und in seiner Liebe zum klassischen Hollywood ebenso wie zum europäischen Autorenkino. Wenn die Menschen bei Kaurismäki ihre Emotionen nicht zum Ausdruck bringen, dann heißt das nicht, dass sie keine besitzen: Alles was es zu sagen gibt, findet sich konzentriert in den Bildern selbst. Ein leeres Glas, ein leeres Bett. Eine Vase zwischen zwei Menschen. Der Blick Holappas zu Ansa im fast menschenleeren Kino.
Aki Kaurismäki ist, wie seit vierzig Jahren über ihn zu lesen ist, ein Meister der Lakonie. Er filmt wunderbare Parabeln über das Überleben in einer Welt der sozialen Kälte, das seinen Figuren nur deshalb gelingt, weil sie wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern – mit „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1989) beendete er seine sogenannte Alltagstrilogie, an die „Fallende Blätter“ nun anknüpft – sich dem Unbill entgegenstemmen. Doch Kaurismäkis „Working-Class-Filme“ schlagen nicht in die sozialrealistische Kerbe wie etwa die Arbeiten von Ken Loach oder der Brüder Dardenne; sie sind Sozialmelodramen, die ein Happyend versprechen. Wenn sich zu Beginn von „Fallende Blätter“ im Supermarkt riesige in Plastik verpackte Fleischstücke an der Kassa stapeln, hat die Gier der industriellen Massenproduktion ihr Ziel erreicht. Doch wenn am Ende des Films Ansa und Holappa wie in einem Chaplin-Film als kleine Figuren in der Ferne verschwinden, sind sie am ihrigen ebenfalls angekommen.