Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Füssl · 12. Mär 2023 · Tanz

Phantastische Körperskulpturen jenseits von Zeit und Raum

Der „Bregenzer Frühling“ 2023 wurde im gut besetzten Festspielhaus mit einer selbst für geübte Tanzfestvial-Besucher:innen höchst außergewöhnlichen Performance eröffnet: der österreichischen Erstaufführung von „Vessel“, einer Koproduktion des renommierten belgisch-französischen Choreografen Damien Jalet und des japanischen bildenden Künstler Kohei Nawa für das in Rennes ansässige Théâtre National de Bretagne. Ein mutiger Festivalauftakt, der die Bedeutung dieses Tanzfestivals für die Bodensee-Region eindrucksvoll unter Beweis stellte.

60 Minuten lang im Überall und Nirgendwo

Jalet/Nawa bedienen weder die üblichen Konsumgewohnheiten noch irgendwelche Erwartungshaltungen des Publikums. Alles, was man – sagen wir mal etwas provokant – von einer durchschnittlichen Netflix-Serie erwartet, wird hier völlig ignoriert: es gibt keine (schon gar keine leicht zu verfolgende) Handlung, keine verständliche Symbolik, außerordentliche Langsamkeit statt Tempo, ein mehrdeutiges Setting in oftmals diffusem Licht, der Sound plätschert zumeist ruhig dahin. Also nichts, das sich an den kognitiven Erfahrungen durchschnittlicher Zuschauer:innen leicht andocken lässt. Man wird in ein Überall und Nirgendwo entführt, in ein unergründliches Biotop jenseits von Zeit und Raum, bevölkert von gleichermaßen phantastischen wie undefinierbaren Wesen, die auf perfekte Weise in Szene gesetzt werden.
 
Kopflose Körperakrobatik
 
Drei Tänzerinnen und vier Tänzer kämpfen sich – nur mit einem hautfarbenen Slip bekleidet –jenseits aller Tanzgewohnheiten durch ein experimentelles Bewegungsrepertoire, das die seltsamsten Körperskulpturen ermöglicht. Bereits beim Eröffnungsbild sind drei Körperknäuel zu sehen, die sich nur sehr schwer entwirren lassen. Die Köpfe verschwinden unter den Armen, die Körper sind in einem Maße ineinander verschlungen und verschmolzen, dass sich kaum erkennen lässt, welche Gliedmaßen zu welchem Torso gehören. Unvorstellbare Anspannungen, Streckungen, Dehnungen und Verrenkungen verlangen höchste Körperbeherrschung, Kraft und Konzentration. Manchmal bewegen sich Arme und Beine aus dem Knäuel heraus wie die Tentakel von Seeanemonen. Die seltsamen Gebilde sind rund um eine kraterartige Insel gruppiert, die aus dem knöcheltief mit einer Wasserschicht bedeckten, reflektierenden Bühnenboden ragt – oder ist es doch ein Schiff, oder gar ein Raumschiff? Alles ist vieldeutig: Schöpfungsmythos, Untergangsphantasie, unbekannte Lebensformen, Geburt, Tod, fremdartige Rituale – der Vorstellungskraft sind keinerlei Grenzen gesetzt. Rasch wird klar, wie perfekt Sound- und Lichtinszenierung diese 2015 in Kyoto erarbeitete und uraufgeführte Bewegungsperformance unterstützen. Der junge japanische Komponist Marihiko Hara (teils in Kooperation mit seinem renommierten Kollegen Ryūichi Sakamoto) liebt interdisziplinäre Projekte mit Film, Theater, Performances und bildender Kunst und bewegt sich hier mit seinen minimalistischen, elektronischen Klängen – die vorwiegend ihre meditativen Komponenten entfalten – im Spannungsfeld von Ambient, Noise und Glitch. Sie führen die Zuschauer:innen in einen nahezu tranceartigen Zustand, der durch das ausgeklügelte Lichtdesign Yukiko Yoshimotos, das jeden angespannten Muskel, jede hervortretende Sehne und das Knochengerüst der Akteur:innen plastisch abbildet, noch verstärkt wird.
 
Humor und/oder Horror
 
Kurz gibt es eine leichtfüßige Entspannung, wenn sich die Tänzer:innen in seltsame, vielleicht froschartige Wesen verwandeln, die Köpfe zur Brust hinunter geneigt und so unter den Armen versteckt, dass die Zwischenräume zwischen Nacken und Schulterblättern wie Augen und jene zwischen den abgewinkelten Armen wie Nasen und Münder erscheinen. Sie bewegen sich in einem skurrilen Schrittballett, drohen im Dominoeffekt umzukippen, wirken übermütig, könnten aber, wenn die Stimmung umschlägt, auch einem Horrorfilm entstiegen sein – ein Metier, das durchaus auch zu den Vorlieben Damien Jalets zählt, schließlich schuf er auch zur Musik von Thom Yorke die Tanzszenen für Luca Guadagninos Neuverfilmung des Horrorklassikers „Suspiria“. Die Vorstellung, von skurrilen, fratzenhaften Gesichtern beobachtet zu werden, wird man auch nicht mehr los, wenn sich die Akteur:innen zurück auf der Insel wieder zu seltsamen, in permanenter Metamorphose befindlichen Skulpturknäueln formieren.
 
Mythen und Rituale
 

Dort geht das Zeitlupen-Spektakel in einem geburtsähnlichen Szenario – die Insel mutiert zur Vulva – ins Finale über. Plötzlich ist zum ersten Mal ein Gesicht zu sehen, wenn einer der Tänzer eine weiße, gallertartige, zähflüssige Substanz von seinem Kopf über seinen Körper herunterrinnen lässt. Es ist berührend, wenn zumindest eines der bislang gesichtslosen Wesen ohne erkennbares Geschlecht, Alter oder Rasse seine Anonymität aufgibt und in poetischen, schließlich in Nebelschwaden verlierenden Bildern an der Erde andockt. 
Nüchtern betrachtet handelt es sich, wie der Choreograf verraten hat, um ein aus Kartoffelstärke gewonnenes Produkt, das der mit unterschiedlichsten Materialien experimentierende Kohei Nawa auch schon in früheren Installationen verwendet hat. Im Bühnengeschehen nimmt es aber etwas Rituelles, Magisches, Tiefgründiges an. Was gut zu Damien Jalet passt, der auch über längere Zeit intensiv mit Sidi Larbi Cherkaoui zusammengearbeitet hat und es liebt, als freier Choreograf durch alle Welt zu reisen und in die Produktionen jeweils auch alte Mythen ihres Entstehungsortes einzubauen. Hier gibt es Verweise auf die in der Shinto-Mythologie beschriebene Unterwelt Yomi oder auf die japanische Schöpfungsmythologie Kojiki, in der die Urgötter Izanagi und Izanami, ein Geschwisterpaar, das im Ozean das erste Festland erschuf, wo weitere Urgötter aus einer gallertartigen Masse stiegen. Und manches erinnert an Butoh. Aber letztlich scheint es, als hätten Damien Jalet und Kohei Nawa ihre eigene komplexe Mythologie erfunden, in Szene gesetzt von sieben exzellenten Körperartist:innen. Das Wort „vessel“ lässt sich mehrdeutig übersetzen – als ein Gefäß mit vielfältigen, sich erst in den Köpfen der Betrachter:innen zusammenbrauenden Inhalten, als ein Schiff auf unbestimmtem Kurs, den jede/r für sich selbst bestimmen kann. Eine gewagte Symbiose aus Tanz, Performance, Installation und Skulptur – verblüffend, verstörend, befremdlich, begeisternd, auf jeden Fall einzigartig.

Nächste Aufführung beim Bregenzer Frühling:
Israel Galván Company: „Seises“
Sa, 18.3.23, 20 Uhr,
Festspielhaus Bregenz
www.bregenzerfruehling.com