Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Michael Pekler · 19. Mär 2024 · Film

Neu in den Kinos: „Die Unschuld“

Der japanische Filmemacher Koreeda Hirakazu gilt mit Filmen wie „Shoplifters“ als Meistererzähler familiärer Beziehungen. Auch in seinem jüngsten Sozialdrama „Monster" (dt.: „Die Unschuld“) beweist er sich als einer der größten Humanisten des zeitgenössischen Kinos.

Das bekannteste Monster aus Japan ist eine Riesenechse. Sie ist entsprechend groß, ungelenk und das Ergebnis einer von der menschlichen Zivilisation verschuldeten Katastrophe. Im jüngsten Film des japanischen Filmemachers Koreeda Hirokazu gibt es ebenfalls ein Monster, doch es kommt auf leisen Sohlen daher, indem es sich scheinbar im Kopf eines Jungen einnistet. Ob man denn noch ein Mensch sein könne, wenn man das Gehirn eines Schweins implantiert bekommen hat, will der Fünftklässler Minato (Soya Kurokawa) von seiner Mutter Saori (Sakura Andō) wissen. Natürlich nicht, lautet die eindeutige Antwort. Die beiden schauen vom Balkon ihrer Hochhauswohnung auf ein brennendes Gebäude mitten in der japanischen Kleinstadt. Nicht Godzilla hat es in Schutt und Asche gelegt, sondern ein anonymer Brandstifter.
Es mag seltsam anmuten, dass ein Film mit dem internationalen Titel „Monster“ (japanisch: „Kaibutsu“) mit dem deutschen Verleihtitel „Die Unschuld“ versehen wird, assoziiert man mit einem Monster doch das Gegenteil: Angst und Zerstörung. Doch Koreeda Hirokazu erzählt tatsächlich von einer Unschuld, die man als vermeintlich menschliches Monster zu verlieren meint: Minato schneidet sich die Locken vom Kopf. Er kommt mit nur einem Schuh von der Schule nach Hause. Verschwindet im nahen Wald in einem verlassenen Eisenbahntunnel. Bis sich herausstellt, dass ihm ausgerechnet sein junger Lehrer Hori (Eita Nagayama) die monströse Idee vom Schweinehirn in den Kopf gesetzt hat. Womit zumindest für die alleinerziehende Saori der Schuldige gefunden ist. Bis sie in der Schule in die müden, scheinbar toten Augen der Direktorin blickt und fragt: „Können Sie mir als Mensch gegenübertreten?“

Nichts als die Wahrheit

„Die Unschuld“ ist seit fast dreißig Jahren der erste Film Koreedas, für den er – seinem Ruf als bedeutendster zeitgenössischer Autorenfilmer Japans zum Trotz – nicht selbst das Drehbuch geschrieben hat. Es stammt von Yūji Sakamoto, der im vergangenen Jahr in Cannes dafür ausgezeichnet wurde, und es erzählt nicht eine, sondern gleich drei parallel sich entwickelnde Geschichten: von Minato, Saori und dem Lehrer Hori. Doch was auf den ersten Blick an eine „Rashomon“-Variation denken lässt – drei unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Ereignis –, wird in „Die Unschuld“ zu einem sich immer enger verstrickenden Knäuel von Erzählsträngen. Denn obwohl die Mutter für das seltsame Verhalten ihres Kindes bald eine Erklärung hat, kennt sie doch nur die halbe Wahrheit. Eigentlich sogar nur ein Drittel.
Als Saori in der Schule Anklage gegen Hori erhebt, der Minato sogar geschlagen haben soll, bekommt sie zwar eine umfassende Entschuldigung, stößt aber auf eine Mauer des Schweigens. Die devote und zugleich renitente Haltung der Schulleitung provoziert erst recht ihren Widerstand: Offensichtlich wurde der Lehrer, der selbst von seiner Unschuld überzeugt ist, zur Abbitte gezwungen. Kann es sein, dass ausgerechnet Minato doch nicht so unschuldig ist und sein heimlicher Freund, der von den Mitschülern gemobbt wird, in der Angelegenheit eine wichtige Rolle spielt? Und war Hori, der den Kindern mit großer Empathie begegnet, an jenem Abend tatsächlich in dem brennenden Gebäude?
Die Wahrheit ist eines der wichtigsten Motive im Werk Koreedas, der in seiner europäischen Phase sogar einen Film mit dem Titel „La Verité“ realisierte. Doch immer, wenn man meint, ihr ein Stück näher gekommen zu sein, muss man in „Die Unschuld“ feststellen, dass man sich gleichzeitig wieder von ihr entfernt hat. Was gemeinhin als „kunstvoll verschachtelt“ beschrieben wird, erweist sich in diesem Film nämlich weniger als kunstvoll denn als realistisch: Konsequent versucht Koreeda, die Wirklichkeit aus der Sicht der jeweiligen Personen zu begreifen. Und sie niemals als Lüge zu entlarven. Weshalb man auch gar nicht dazu angehalten ist, sich für eine der Perspektiven zu entscheiden, sondern zunächst jede einzelne als persönliche Wahrheit zu akzeptieren. Auch deshalb ist diese Suche in keiner Weise konventionell spannend, im Gegenteil: Wie ein ruhiger Fluss nimmt die Erzählung, unterstützt vom nahezu elegischen Score des im vergangenen Jahr verstorbenen Komponisten Ryūichi Sakamoto, ihren Lauf, füllen sich Leerstellen und müssen vorschnell gefasste Ansichten in ein neues Licht gerückt werden. Ein fehlender Schuh etwa muss noch lange nicht bedeuten, dass man ihn verloren hat.

Das Große im Kleinen

Dass Koreeda als Meistererzähler familiärer Beziehungen gilt, liegt nicht nur am Erfolg seiner international gefeierten Familiendramen wie „Nobody Knows“ oder „Shoplifters“; sondern auch daran, dass er als zutiefst humanistischer Filmemacher gegenwärtig wie kaum ein anderer Regisseur in der Familie nach verborgenen Antworten auf die großen Fragen sucht. Und so ergänzen in „Die Unschuld“ einander nicht (nur) die Perspektiven, sondern werden die einzelnen Systeme von immer größer werdenden überlagert: die nur mehr aus Mutter und Sohn bestehende Familie von der Schule, und diese von einer restriktiven Gesellschaft, die wiederum dem Einzelnen keinen Fehler erlaubt. Weder dem Schüler noch der Mutter und schon gar nicht dem Lehrer.
Das Monster als Riesenechse wird nicht kommen. Aber schließlich, fast schon gegen Ende des Films, kommt es in anderer Gestalt doch. Weder macht es aber etwas kaputt noch hat es sich in Minatos Kopf eingenistet, der sich mit seinem Freund vor einem tosenden Sturm in das gemeinsame Versteck geflüchtet hat. Sondern es sitzt mitten auf der Stirn eines Kindes. Und gibt sich erst als Monster zu erkennen, wenn es erraten wurde. 

ab 23.3.,TaSKino im GUK Feldkirch (OmU) und am 3.4. im Filmforum Bregenz