Kris Lemsalu im Magazin 4 im Rahmen des Bregenzer Kultursommers (Foto: Magazin 4)
Michael Pekler · 18. Mai 2024 · Film

Neu in den Kinos: „Die unendliche Erinnerung“

In ihrem oscarnominierten Dokumentarfilm porträtiert die chilenische Filmemacherin Maite Alberdi die letzten Jahre des TV-Journalisten Augusto Góngora und seiner Frau Paulina. Ein Film über das Erinnern und das Vergessen, über das chilenische Trauma der Diktatur und das persönliche Glück. Und über die Liebe.

Woran erinnert sich der Mensch? An die guten und die schlechten Dinge des Lebens, könnte die schnelle, aber sehr einfache Antwort lauten. Doch prägen tatsächlich vor allem die schmerzhaften Erinnerungen, wie Nietzsche behauptet? „Nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“, zitiert ihn jedenfalls die Filmemacherin Maite Alberdi. Sollte das so sein, gibt es dafür einen Grund: Während die schönen Wahrnehmungen im Hier und Jetzt oft schnell wieder verblassen, kann manche böse Erinnerung ein Leben lang dauern. 
Wem das zu philosophisch ist oder wer gerade keine Lust hat, bei Henri Bergson über „Materie und Gedächtnis“ nachzulesen, kann sich auch einen besonderen Kinofilm ansehen: „Die unendliche Erinnerung“ („La memoria infinita“) ist ein chilenischer Dokumentarfilm, der sich völlig unaufdringlich, in nahezu sanftmütiger Weise der Frage widmet, was bleibt, wenn man vergisst.
Maite Alberdi, die sich als Dokumentarfilmemacherin mit feinfühligen Studien einen Namen gemacht hat, porträtiert ein höchst ungewöhnliches Paar: Augusto Góngora und Paulina Urrutia leben seit mehr als zwanzig Jahren zusammen und bewohnen ein Haus im Grünen. Augusto war ein prominenter Kulturjournalist und Autor, Paulina, von ihm liebevoll „Pauli“ genannt, ist Tänzerin und war früher sogar Kulturministerin – bis vor acht Jahren bei Augusto eine Demenz-Erkrankung diagnostiziert wurde.

Politisches Zeitdokument

„Die unendliche Erinnerung“ hätte ein rührseliger Film über ein älteres Paar werden können, über eine Frau, die sich jeden Tag um ihren kranken Mann kümmert und über die kleinen Freuden des Alltags, die einem dennoch vergönnt sind. Doch Maite Alberdi hat, mit ausdrücklicher Zustimmung auch von Augusto, einen ganz besonderen Film geschaffen, der intimes Porträt und politisches Zeitdokument zugleich ist. Denn Augusto kämpfte viele Jahre gegen die Militärdiktatur Pinochets, zuerst im Untergrund, später in den Jahren der Demokratisierung mit seinen eigenen Waffen, mit Wort und Schrift, gegen das Vergessen. Jahre und Kämpfe, die er nun selbst vergessen hat.
Manchmal weiß er beim Aufwachen in der Früh nicht, wer die Frau neben ihm im Bett ist. „Ich bin Pauli“, erklärt sie dann und beteuert ihm ihre Liebe, und er freut sich, dass er sie eben kennengelernt hat. An schwierigen Tagen, die immer häufiger werden, erkennt er sie gar nicht. Dann ist es drei Uhr am Nachmittag und er hat keine Ahnung, wer die Frau an seiner Seite ist. Paulina erzählt ihm, wie sie das Haus gebaut haben, wo sie die Urlaube verbracht haben. Und was unter Pinochet geschah. „Die unendliche Erinnerung“ ist auch ein Film über das Nicht-Vergessen eines kollektiven Traumas. Über die Verschwundenen, Gefolterten, Ermordeten. Darüber, was Menschen in diesem Land anderen Menschen angetan haben.
Alberdi filmt mit einem sehr kleinen Team, nur Kameramann und Tonmann sind anwesend. Paulina stellte Alberdi Aufnahmen aus dem Familienarchiv zur Verfügung, und als während der Dreharbeiten die Covid-Pandemie das Land erfasst, beschließt sie, selbst eine Videokamera in die Hand zu nehmen und weiter zu filmen. Augusto hat zwei erwachsene Kinder, als die Tochter zu Besuch kommt, soll nur sie erzählen. Später ist er verzweifelt, weil er seine Kinder mitten in der Nacht nicht sehen kann. Es sind ergreifende Szenen, die nichts beschönigen. Die Krankheit ist grausam, frisst die Erinnerung Stück für Stück weg. Wie hält man dagegen?
Vielleicht lauscht man dem Gesang der Vögel, dem Rauschen des Windes, dem Plätschern des Wassers im Brunnen. Wie Paulina und Augusto es gegen Ende des Films machen. Dann bedankt sich Augusto bei seiner großen Liebe. Im Mai 2023, wenige Wochen nach den Premieren des Films in Sundance und Berlin, starb Augusto Góngora im Alter von 71 Jahren. 

26., 27. und 30.5., TaSKino im GUK Feldkirch (OmU)