Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Fritz Jurmann · 01. Aug 2021 · Musik

Wagners „Rheingold“ im Versuchslabor – ein überwältigender Eindruck

Das waren diesen Sonntag in einer Matinee der Bregenzer Festspiele für mich als langjährigen Musikkritiker sicher die spannendsten und intensivsten drei Opernstunden seit langem. Unter der schlichten Bezeichnung „Zweites Orchesterkonzert der Wiener Symphoniker“ wurde nichts weniger geboten als die komplette Oper „Das Rheingold“ von Richard Wagner, bekanntlich der Vorabend seiner berühmten Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“, hier in einer als „halbszenisch“ bezeichneten Version. Das heißt, dass man in einer Art Versuchslabor Wagner auf den Grund gehen, seine Musik und seine Dramaturgie ins Zentrum stellen und dafür manches äußerliche Gehabe selbstverliebter Regisseure außer Acht lassen wollte.

Dieses Experiment, wenn man es denn so nennen will, ist vollinhaltlich gelungen – so sehr, dass man versucht ist, daraus sogar ein Modell für weitere Produktionen dieser Art abzuleiten. Das ist zuvorderst dem Mut von Intendantin Elisabeth Sobotka zu danken, die dabei auch das Wagnis des Scheiterns auf sich nahm. Im selben Maß aber sind auch die exzellente Besetzung, die einfallsreiche Regie von Johannes Erath, die wunderbaren Wiener Symphoniker und ihr neuer Chef Andrés Orozco-Estrada zu nennen, der in jeder Phase dieser drei Stunden Herr der Lage blieb. Das vollbesetzte Haus jedenfalls war am Ende total begeistert, bedankte sich mit langen Ovationsketten und Jubelrufen. Und selbst eingefleischte Wagner-Fans hatten an dieser noch nie erlebten Form der Darbietung nichts auszusetzen.

Das „Rheingold-Virus“

Neben dem Corona-Virus scheint derzeit überhaupt so etwas wie ein „Rheingold“-Virus zu grassieren, so oft und vielfältig wie dieses derzeit an den Opernbühnen rundum gehandelt wird. Während das Wagner-Mekka Bayreuth die Premiere seines geplanten neuen „Rings“ aus pandemischen Gründen auf 2022 verlegen musste, gab es andernorts gleich drei verschiedene Inszenierungen zur Auswahl. Erst kürzlich wurde das Werk in der Regie von Sven-Eric Bechtolf von 2009 im Kanal der Wiener Staatsoper gestreamt, war kurz danach bei den Tiroler Festspielen in Erl in der aktuellen Inszenierung der heuer auch in Bregenz gegenwärtigen Brigitte Fassbaender live zu erleben und siedelte sich schließlich am 29. Juli outdoor neben dem Bayreuther Festspielhaus an. Dort verantwortet der Puppenspieler Nikolaus Habjan, eben noch in Bregenz glänzend satirischer Festspiel-Miteröffner, ein auf „Rheingold“ basierendes, autonomes Stück unter dem Titel „Immer noch Loge“.
Und jetzt also auch Bregenz, mit „Rheingold“ ausgerechnet am Sonntagvormittag. Dort hat man dem Publikum zuletzt 2017 in einer Matinee mit dem ersten Aufzug der „Walküre“ bereits erfolgreich die Scheu vor dem genialen Bayreuther Großmeister als Frühschoppen-Ersatz genommen. Die Wahl ist naheliegend, geistert doch dessen relativ populäre Oper „Rheingold“ als eines der nächsten Stücke auf der Seebühne in den Köpfen der Verantwortlichen. Zudem gibt es Lokalbezüge, die sich gut vor das 75-Jahr-Jubiläum des Festivals spannen lassen: Vater Rhein fließt quasi vor unserer Haustüre vorbei, und mit der Wiederentdeckung zweier Handschriften im Palast Hohenems begann auch die Erfolgsgeschichte des Nibelungenliedes als Teil der dichterischen Vorlage für Wagners „Ring“, der im Musiktheater längst als Prototyp eines Gesamtkunstwerkes aus Bühne, Dichtung und Musik gilt.  

Findiger Regisseur Johannes Erath

Bregenz geht dabei allerdings neue Wege. Spannend ist es allemal und eine lohnende Aufgabe für einen findigen, ideenreichen Regisseur wie Johannes Erath, der hier mehrfach seinen Mut zu aufsehenerregenden optischen Lösungen gezeigt hat wie 2018 bei Berthold Goldschmidts Hausoper „Beatrice Cenci“. Seine Möglichkeiten für eine, wenn auch bescheidene, Inszenierung, um gewisse Handlungsabläufe optisch zu verdeutlichen, sind auch im großen Festspielhaus begrenzt. Allein auch deshalb, weil das Orchester in einer gewaltigen Besetzung von 90 Musikern doch den Großteil der Bühne belegt hat. So bleiben Erath für seine Einsätze die schmale Vorbühne, ein erhöhtes Podest im Zentrum des Orchesters und an der Rückwand eine Möglichkeit für Video-Zuspielungen, was in dieser Situation fast zwingend erscheint.    
Die Vorbühne wird gleich einmal bespielt. Die drei Rheintöchter (wunderbar harmonierend: Liv Redpath, Svetlina Soayanova und Claudia Huckle), räkeln sich dort mit blonden Perücken und in schwarze Fräcke gekleidet, später in knappen Badetrikots lasziv in Liegestühlen. Sie bewachen das Rheingold, das ihnen der sexuell übergriffige Zwerg Alberich (spielfreudiger Bass: Markus Brück als Einspringer) abspenstig macht. Dann erscheint Götterchef Wotan (würdig: Brian Mulligan) mit seiner Frau Fricka (hochdramatischer Sopran: Annika Schlicht), und die verhängnisvolle Geschichte nimmt ihren Lauf, immer wieder gesteuert als einer Art „Spielmacher“ von der schillernden Figur des Loge (mit etwas tenoralen Höhenproblemen und am Ende kraftlos: Will Hartmann), und bereitet damit den Boden für den Fortgang der Handlung.

Der Riese in der Badewanne

Zuvor erfreut man sich noch an manchen erfrischenden Regieeinfällen, wie etwa die beiden Riesen Fasolt und Fafner (mächtig mit ihren Bässen: Levente Púll und Dimitry Ivashchenko), die bei ihrem Auftritt mit überdimensionierten Gesichtern an der Leinwand eingeführt werden, wie die Zaubertricks mit der Verwandlung Alberichs mittels Tarnkappe in eine Riesenschlange bzw. eine Kröte optisch elegant gelöst werden und wie die ansehnliche Freia (mühelos im Sopran: Gal James) nach ihrem Raub als Pfand für das Gold durch die Riesen in einer Jugendstil-Badewanne auf die Bühne geschoben wird. Eben dieses Utensil wird daraufhin zur letzten Ruhestätte für Fasolt, der vom Kollegen Fafner erschlagen wird.
Der verhängnisvolle Fluch des Rings hat damit bereits sein erstes Opfer gefordert, wie die Urmutter Erda (großartiger Alt: Claudia Huckle) schon vorab vom Rang aus gewarnt hat: „Weiche, Wotan, weiche!“ Die Badewanne aber wird in einer Zeitlupe im Bodensee zum Symbol für den schwankenden, mit gesellschaftskritischen Aspekten durchsetzten Boden der Handlung. Im Schlussbild wird die Wanne mit dem Pfänderbähnle transportiert und der Bregenzer Hausberg zur Götterburg Wallhall, wo sich noch manches Unheil anbahnt – Fortsetzung folgt bekanntlich.

Dirigent hat Feuertaufe bestanden

Dirigent Andrés Orozco-Estrada hat nach der kammermusikalischen „Schöpfung“ vor einer Woche nun mit dem opulenten „Rheingold“ endgültig seine Feuertaufe in Bregenz bestanden, und zwar beides Mal glänzend. Einzig die berühmten 136 Takte Es-Dur des Vorspiels, das auf der total abgedunkelten Bühne aus dem Nichts heraus den Urzustand des Rheins andeutet, gerieten ihm etwas zu pathetisch, ebenso wie das Finale. Dafür ist er absolut sängerfreundlich, nie zu laut, und trägt alle mit seinen Einsätzen und Tempi auf Händen. Ebenso verständnisvoll der Umgang mit „seinen“ Wiener Symphonikern, für die wohl nicht so oft ein „Rheingold“ am Programm steht. Sie bestehen diese Herausforderung mit Bravour, das ist Wagner-Sound vom Feinsten, mit dem sie die Zuhörer mitreißen. Allein die erforderliche Konzentration über drei Stunden hinweg ist beachtlich, die Fahrt nach Nibelheim in Alberichs Reich, der seine Schmiede knechtet, die markanten Aufbrüche des Blech-Gewitters, das fein abgestimmte Holz und der Wald von Streichern sind wie ein wohliges Klangbad, in das man sich gerne versenkt.
Unverständlich im Ablauf bleibt allein, warum man bei dem netto 2 Stunden 40 Minuten langen Werk eine Pause machte, die den Zuhörer abrupt aus der aufgebauten Stimmung reißt, noch dazu an einer dramaturgisch falschen Stelle. In Bayreuth wird das konsequent ohne Pause durchgespielt. Dass Wagner nun einmal Sitzfleisch verlangt, dürfte wohl den meisten bekannt sein.