vorarlberg museum plant für 2025 Ausstellung zu Franz Plunder (Foto: Stadtarchiv Bregenz)
Fritz Jurmann · 20. Jul 2017 · Musik

Verregnete „Carmen“ am See - Ganz großes Kino mit psychologischem Feinschliff

So hatte das Regisseur Kasper Holten nicht gemeint, als er davon sprach, dass Luft für ihn Freiheit bedeute und Wasser das Schicksal. Nun kam, trotz aller positiven Wettervorhersagen, das Wasser von oben, kübelweise in Form eines starken Gewitterregens punktgenau zum Beginn der „Carmen“-Premiere am Mittwoch auf der Seebühne – auch eine Art Schicksal! Gestoppte 75 Minuten lang. Doch niemand dachte an Abbruch, im Gegenteil.

Es entwickelte sich so etwas wie ein Massenphänomen, eine verschworene Gemeinschaft aus Künstlern auf der Bühne im strömenden Regen und in Pelerinen eingepackten Besuchern, die sich den Abend nicht durch das Wetter vermiesen lassen wollten. Solisten, Festspielchor, Kinderchor und Statisten legten unter diesen Umständen tolle Leistungsbereitschaft ohne merkliche Einschränkungen an den Tag. So galt der lange und herzliche Applaus am Schluss neben dem Leading Team vor allem auch diesem Durchhaltevermögen. Respekt!      

Der ideale Spagat gelungen

Nach dieser Schilderung der äußeren Umstände, durch die die Premiere wohl knapp an einer Absage vorbeischrammte, nun endlich zum Wichtigsten, zum Künstlerischen. Hier können Sie alles vergessen, was Sie bisher über „Carmen“ gehört und gesehen haben, diese viel strapazierte Oper, die angeblich allein heuer an 136 Häusern weltweit gezeigt wird. Diese Produktion stellt so ziemlich alles in den Schatten, was man bisher (auch an unserem Landestheater) an klischeebehafteten Interpretationen dieses Sujets erlebt hat. Mit dieser dritten Auflage von Bizets Geniewurf ist den Bregenzer Festspielen etwas fast Unmögliches gelungen: der ideale Spagat aus der Massentauglichkeit einer tollen Bühnenshow und höchster künstlerischer Qualität. Ganz großes Kino eben mit psychologischem Feinschliff.  

Die 1875 in Paris uraufgeführte Oper gilt zu Recht als Jahrhundertwerk, das alle dramatischen und musikalischen Ansprüche an das Genre in besonderem Maße erfüllt – und trotzdem bis heute ungeheuer populär ist. Für Georges Bizet (1838 – 1875) war es die Summe seiner Lebenserfahrungen als Komponist, die er in seine letzte Oper einbrachte. Dem Franzosen, der nie spanischen Boden betreten hat, ist damit die wohl spanischste aller Opern gelungen. Es gilt als Ironie des Schicksals, dass er den späteren großen Erfolg seiner Schöpfung nicht mehr erlebt hat.        

Carmen ist Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik, gleichzeitig stolze Femme fatale, die das Unangepasste und das Spiel mit den Männern liebt. Doch am Ende bleibt sie lieber einsam, als sich zu binden und ihre Freiheit aufzugeben und erleidet so ihr Schicksal. Eine völlig amoralische „Heldin“ also als große Mezzopartie, ein tenoraler Liebhaber Don José, der als jämmerlicher Mörder endet, und der gefeierte Torero-Held Escamillo in Bariton-Lage – in diesem sinnlich aufgeladenen Dreieck spielt sich die Handlung in Andalusien zwischen Liebe, Leidenschaft und Tod ab.  

„Carmen“ als Herzenssache

Der erstmals hier tätige dänische Regisseur Kasper Holten, für den „Carmen“ in diesen vier Jahren der Entwicklung zu einer Herzenssache, einer Lebensaufgabe wurde, ist ein großer Name in seinem Fach, der auch schon Wagners „Ring“ bewältigt hat. In seinem Einfallsreichtum, seiner Antenne für Bühnenwirkungen setzt er das Werk bildgewaltig in Szene, ohne dabei je die für ihn wichtige psychologische Charakterisierung seiner Figuren zu vernachlässigen. So stellt er am Beginn und Ende Carmen als junges Mädchen auf die Bühne (Efsa Topal), um ihre Entwicklung zu verdeutlichen.

Zusammen mit der so genial wie weiträumig denkenden und agierenden britischen Bühnenbildnerin Es Devlin, ebenfalls ein Debüt in Bregenz, reizt Holten alles aus, was diese Bühne an Effekten hergeben kann. Und es ist unglaublich, welches Leben die am Tag recht statisch wirkenden, unbeabsichtigt in die Luft geworfenen Spielkartensymbole aus der Opernhandlung heraus entwickeln.

Natürlich bleiben die meisten dieser Riesendinger den ganzen Abend lang an ihrem Ort, doch es gibt als perfekte Illusion elektronisch ausgelöste Kipp- und Dreheffekte in vielen, immer wieder neu ausgeklügelten Einstellungen, die das Bühnengeschehen nicht nur illustrieren, sondern auch auf ihre Weise klug kommentieren. So steht die Herz-Dame etwa für die Figur der Carmen, der Kreuz-Bube für ihren Liebhaber Don José, eine in blutrotes Licht getauchte Szenerie mit dem Sensenmann für die Todesprophezeiung der Karten. Das kapiert jeder. Auch liebevolle Details wie die Zigarette, die in der riesigen linken Hand den ganzen Abend über glüht und raucht.

Eine Show ohne Durchhänger

Das funktioniert alles ohne Durchhänger auch als Show auf dem See, in knapp zwei Stunden, die wie im Nu verfliegen, durchgestylt mit blitzschnellen Verwandlungen, Bildkompositionen von großer Ästhetik, mit fantastischen Kostümen (Anja Vang Kragh), ganz schön erotischen, kämpferischen oder lustigen Tanzeinlagen (Signe Fabricius) wie dem „Wasserballett“ auf der Vorbühne und vielen subtilen Lichtstimmungen (Bruno Poet), die schönste im Zwischenspiel vom zweiten auf den dritten Akt. Bei Escamillos Stierkampf muss sogar wieder das Feuerwerk herhalten, eines der ältesten Showelemente am See. Jedenfalls: Man kommt aus dem Staunen kaum heraus.

Und es sind Effekte dabei, wie man sie so in Bregenz am See noch nicht erlebt hat, zum Beispiel Projektionen von Livekameras, die die Gesichter der Protagonisten im Großformat auf eine der Spielkarten bringen, damit eine noch viel stärkere Identifikation mit den Figuren und ihren Darstellern ermöglichen. Dafür musste man bisher entweder in der ersten Reihe sitzen oder über ein leistungsfähiges Opernglas verfügen. Oder es wird erstmals an einem Spielort, wo man den Regen fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, künstlicher Regen erzeugt – ein Effekt, der bei der Premiere angesichts des Dauerregens freilich unterging. Die Spielkarten sind daraufhin jedenfalls gehörig verwischt, ebenso wie die Gefühle der Handelnden.

Virtuoses Spiel mit den Elementen

Die Seebühne ist Holten auch Verpflichtung, virtuos mit den Elementen zu spielen. So springt ein Carmen-Double auf der Flucht vor ihrer Verhaftung mit einem Köpfler in den Bodensee, und auch das Schicksal der Hauptfigur vollendet sich nicht wie vorgeschrieben. Am Bodensee wird Carmen von Don José nicht erstochen, sondern vor dem unruhig werdenden Premierenpublikum ertränkt, auf der leicht unter den Wasserspiegel abgesenkten Vorbühne.  

Zu verzichten wäre allenfalls auf die waghalsigen Künste der Schmuggler als Hochgebirgs-Kletterpartie, die sich an den höchstgelegenen Karten abseilt und dabei die mit ihrer Lagerfeuerromantik so wunderbar lyrisch versonnene Idylle der zentralen Kartenleger-Szene beeinträchtigt. Das ist, in einer Inszenierung, die ansonsten brillant mit Showeffekten umzugehen weiß, ein überflüssiger Rückfall in den Populismus von Pountneys grellem „Zauberflöte“-Spektakel von 2013/14.

Bizets Musik in besten Händen

Georges Bizet hat für seine letzten Oper im spanischen Kolorit, mit schwülen Farben und französischer Eleganz eine vielschichtige musikalische Umsetzung gefunden, mit so genialem Eingebungen wie der berühmten „Habanera“, der „Blumenarie“ oder dem feurigen „Toreador“-Marsch, dessen Wirkung als Gassenhauer bis heute anhält. Die Musik ist auch heuer auf der Seebühne bei dem von den Vorjahren mehrfach hervorragend bewährten Paolo Carigniani in besten Händen, dem sportiven Marathonläufer, dem auch am Pult nie die Puste ausgeht, der aber auch unglaublich viel Feingefühl zwischen der Lyrik und Dramatik des Werkes findet.

Die Wiener Symphoniker spielen temperamentvoll und klangschön, sind mit Freude und spürbarem Einsatz bei der Sache, auch wenn „Carmen“ für sie eigentlich eine Routineangelegenheit bedeutet, und kommen im Sound auch großflächig und fein abgestimmt über die BOA-Anlage („Bregenz Open Acoustics“). Dazu mischen sich auch die Solisten und die Stimmen der gut geschulten Chorleute, die über Mikros im Haus (Prager Philharmonischer Chor) und unverstärkt auf der Seebühne (Bregenzer Festspielchor, Kinderchor der Musikhauptschule Bregenz-Stadt) singen, einstudiert von Lukas Vasilek, Benjamin Lack und Wolfgang Schwendinger.

Premiere-„Carmen“ als Ereignis

Gesungen wird in französischer Originalsprache mit deutschen Untertiteln. Bei der dreifachen Besetzung der Hauptpartien ist schon die Premieren-„Carmen“ eine Wucht. Die Französin Gaelle Arquez scheint in ihrer lasziv ausgespielten Erotik und ihrer katzenhaften körperlichen Beweglichkeit wie geschaffen für diese auch sehr strapaziöse Rolle. Dazu verfügt sie über einen dunkel timbrierten Traum-Mezzo mit gurrend sinnlicher Ausstrahlung, der nicht nur die Männer reihenweise umhaut. Ihr Liebhaber, der dünnhäutige Don José von Daniel Johansson, hat in seinem Tenor edles Material und schöne Spitzentöne vorzuweisen, die auch seine „Blumenarie“ veredeln. Als kühner Draufgänger gibt sich der in gewissen Lagen mit Prey-Anklängen ausgestattete Bariton Scott Hendrucks als aufgeblasener Escamillo. Ein alter, bewährter Bekannter auf der Seebühne, der auch mit seinem übersteigerten Ego als Stier- und Ladykiller überzeugt.

Die Figur der Micaela ist bewusst nicht zu jugendlich, sondern mit einer selbstbewussten jungen Frau besetzt, Elena Tsallagova, durch die diese Dreiecksgeschichte ein bisschen auch zum Viereck wird. Die Sopranistin singt ihre berühmte Arie „Je dis que rien ne m’épouvante“ im dritten Akt in 20 Metern Höhe in der Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand – „höhensicher“ im doppelten Sinn.  

Diese Bregenzer „Carmen“ sollte man unbedingt gesehen haben, nicht nur als Opernfreund. Auch wenn das wegen der heuer restlos ausverkauften 28 Vorstellungen für manche erst nächstes Jahr möglich sein wird.

 

Dauer: knapp zwei Stunden ohne Pause

„Carmen“ im Fernsehen:
Freitag, 21. Juli, 21.20 Uhr, ORF 2 – Live zeitversetzt von der Seebühne
Sonntag, 23. Juli, 18.25 Uhr, ORF 2: „Österreichbild am Sonntag“ aus dem Landesstudio Vorarlberg – „Ich bin Carmen“, Dokumentation