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Anita Grüneis · 10. Sep 2022 · Musik

Uraufführung im Schaaner SAL: Der „Clazz" kommt aus Graubünden

Es gibt eine neue Musikrichtung, sie heißt „Clazz“. Ge- oder erfunden hat sie der Musiker Luca Sisera aus Graubünden. Was er damit meint, das wurde im Schaaner SAL beim Konzert mit dem Jazzquintett Roofer und der Kammerphilharmonie Graubünden unter der Leitung von Gaudens Bieri mehr als deutlich. Es ist die Verschmelzung von klassischer Musik, Free Jazz und Classic Jazz.

Die Welturaufführung des Stückes „Clazz“ wurde vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert. 75 Minuten dauerte die musikalische Expedition mit ihren fünf Movements: „Rockaway“, „Nairs“, „Body Messenger“, „Diverse Density“ und „Atlantic Sketches“. In diesen Sätzen verarbeitete der Komponist Erlebtes, das ihn tief bewegte, wie beispielsweise die Ankündigung, Vater zu werden oder seine dreiwöchige Frachtschiffreise von Genua nach New York.
Seit über zwanzig Jahren ist Luca Sisera ein gefragter Bassist, der international durch zahlreiche ungewöhnliche Projekte auf sich aufmerksam machte. Sein eigenes Quintett Roofer ist ein waghalsiges, spiel- und experimentierfreudiges Jazzkollektiv. Mit der Komposition „Clazz“ wollte der 47-Jährige nun „Neues und Unerhörtes schaffen“, wie er selbst in einem Interview sagte. Das ist ihm bestens gelungen.

Neues und Unerhörtes

Der Schauspieler Nikolaus Schmid begrüßte das Publikum im SAL mit der Erzählung „Aufbruch“ von Franz Kafka: „Wohin reitet der Herr?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst also dein Ziel“, fragte er. „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch: Weg-von-hier – das ist mein Ziel. [...] Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“ Das waren genau die richtigen Worte zu dem „ungeheuren“ Werk, das dann folgte. Der Komponist Luca Sisera hatte während der Corona-Zwangspause eine Reise unternommen, bei der er der improvisatorischen Lust im Jazz und der Vielfalt eines sinfonischen Klangkörpers in ihrem Innersten nachspürte. 

Eine Reise durch Raum und Zeit

Seine Jazzsuite „Clazz“ ist eine Reise durch Zeit und Raum mit dem Ziel „Nur weg von hier“. Ganz im Sinne von Tolstois Worten: „Die Musik zwingt mich, mich selbst, meine wahre Lage zu vergessen; sie bringt mich in eine andere, freundlichere Lage“ – auch das hatte Nikolaus Schmid eingangs zitiert. Es muss eine ungemein anregende Lage gewesen sein, in der sich Luca Sisera beim Komponieren wiederfand, denn sein Werk ist voller Spannung, aber auch voller meditativer Klangcollagen und wuchtiger Dynamik. Immer wieder legte das Altsaxophon von Luise Volkmann eine Richtung vor, der dann alle anderen folgten. Oder Yves Theiler ließ am Klavier durch seine glasklaren, perlenden Improvisationen die Sonne durch die Klanggebilde dringen. Manchmal schien die Musik einen Krimi zu beschreiben, bevor sie zur epischen Erzählung wurde, dann wieder setzten Marschrhythmen ein und man fragte sich, wohin das Ganze steuert, bis ein Gong das große Klanggemälde in sich zerstieben ließ. Manchmal aber blieben alle Töne fragil, die Streicher des Orchesters schienen sie zu surren, die Saxophon- und Bassklänge verloren sich darin. Hin und wieder wirkte es, als würden alle Musiker:innen einfach nur durch ihre Instrumente atmen, bevor sie ihren frisch gebildeten Klangkörpern andere Funktionen erlaubten. Mit viel Elan wurde gegroovt, in tempogeladene Swing-Welten abgehoben, frei improvisiert und dann wieder klassisch musiziert. 

Lebhafte Streitgespräche und Musikwelten

Es war eine Reise durch Klangräume, die stets neu aus dem Moment geboren zu werden schienen und auch wenn sie aus verschiedenen Jahrhunderten stammten – immer hatten sie sich etwas zu sagen. Mal gab die Kammerphilharmonie die Richtung vor, bis das Jazzquintett übernahm, mal umgekehrt und stets folgte einer dem anderen, nahm das musikalische Gespräch auf, führte es weiter. Hin und wieder baute sich eine Spannung auf, als würden die Töne mit einem Schraubenzieher so lange angezogen, bis sie beinahe zu bersten drohten. Das alles wurde von Dirigent Gaudens Bieri mit einer spielerischen Lockerheit zusammengehalten. Und weit mehr als das. Er tanzte die Musik vor, sie ging durch ihn hindurch. In diesen spannungsgeladenen 70 Minuten wurde klar: nicht nur der Dirigent „got rhythm“, sie alle, sowohl die Kammerphilharmonie Graubünden als auch die Roofers. Da bewahrheitete sich ein weiteres Zitat von Nikolaus Schmid: „Über Musik schreiben ist wie über Architektur tanzen – eine ziemlich dumme Idee.“

www.lucasisera.com
www.kammerphilharmonie.ch