Das Nederlands Dans Theater 2 beim Bregenzer Frühling (Foto: Udo MIttelberger)
Peter Füssl · 08. Aug 2022 · Musik

... und nochmals 13 sehr spezielle Konzerte an zwei Tagen – die Jubiläumsedition der Bezau Beatz war auf der ganzen Linie erfolgreich; Teil 2

Hätten die vier hervorragenden Konzerte am Eröffnungstag mit Glotze, Skylla, Bon Bon Flamme und einer Solo-Performance des Schlagzeugers Christian Lillinger andernorts für ein gesamtes Festival-Programm gereicht, so ging es bei den Bezau Beatz am zweiten Tag erst so richtig los. Und wie Festival-Macher Alfred Vogel immer betont: Man kann natürlich auch einzelne Konzerte besuchen, aber die volle Wirkung entfaltet sich erst so richtig, wenn man sich die ganze Ladung gibt. Der berühmte Spruch, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile, bewahrheitet sich hier sogar in ganz besonderem Maße.

Freitag, 5. August: von Evi Filippou bis Théo Ceccaldi & Kutu

 

The Inevitable, also das Unvermeidbare, nennt die aus Griechenland stammende Vibraphonistin, Perkussionistin und Vokalistin Evi Filippou ihr in Berlin ansäßiges Quintett mit dem russischen Saxophonisten Eldat Tsalikov, dem finnischen Gitarristen Arne Braun, dem deutschen Kontrabassist Felix Henkelhausen und seinem Landsmann, Drummer Moritz Baumgärtner. Filippou lässt am Freitagmorgen in Peter Figers Kunstschmiede die griechische Sonne scheinen – einmal, weil ihre Herzlichkeit und ihre sichtliche Freude am Musizieren absolut ansteckend wirken, aber auch weil sie Elemente aus der traditionellen Musik ihrer Heimat äußerst stimmig mit zeitgenössischen Jazz- und Impro-Sounds kombiniert. Tsalikov versteht es, auf Klarinette und Altsaxophon förmlich zu explodieren, während Braun sehr tief gelegte, extravagante Gitarrensoli beisteuert und Filippou dem Vibraphon mit unterschiedlichen Schlägeln und Cellobogen eine Vielzahl an Stimmungen entlockt. Rembetiko-Melodie trifft auf Chamber Jazz-Artiges, Rummelplatz-Achterbahn-Fahrt auf den Swing-Klassiker „Let’s Fall in Love“, eine Spoken-Word-Passage auf Störgeräusche. Was für ein Auftakt für den zweiten Festivaltag!
In der Bezauer Klosterkirche ging es dann am Nachmittag mit einem Konzert der Münchner Harfenistin Kathrin Pechlof weiter, die dort am Richard-Strauss-Konservatorium klassische Harfe und an der Hochschule für Musik in Köln Jazz-Komposition studiert hat. Auch ihr Soloprogramm ist an der Schnittstelle von Klassik, freier Improvisation und zeitgenössischen Kompositionstechniken angesiedelt, wo sie auf stimmige Weise die antik anmutende Schönheit des Harfenspiels mit heutigen Sounderforschungen und Verfremdungstechniken koppelt.
Szenenwechsel an die Bar des Hotels Post, wo das aus dem Pianisten Felix Hauptmann, Drummer Leif Berger und Roger Kintopf am Bass bestehende Trio Percussion aus Köln komplexe Klangwelten erschafft, die aus der Kombination von Hauptmanns Kompositionsideen mit freien Improvisationen entstehen. Junge Musiker mit frischen Ideen sind Teil des Erfolgsrezepts der Bezau Beatz, wenn dann jemand noch so eine unorthodoxe Herangehensweise und solch eine Bühnenpräsenz wie Leif Berger hat, wird das für das Publikum zum ganz besonderen Glücksfall.
Längst zu den Klassikern der internationalen Noise-Performance-Szene mit dadaistischem Einschlag zählt der aus Basel stammende Joke Lanz, der sein Aktionsprojekt Sudden Infant 1989 gründete und seit acht Jahren als Trio mit Bassist Christian Weber und Schlagzeuger Alexandre Babel betreibt – die beiden Schweizer sind vielbeschäftigte Spezialisten in der internationalen Impro-Szene. Joke Lanz sprechsingt und brüllt seine witzig-schrägen, anarchisch wirkenden Texte auf Englisch, Deutsch und Französisch mit höchstmöglicher Intensität zum zumeist knüppelharten, spannungsgeladenen, hochenergetischen Brachial-Sound seiner Partner, er lacht hysterisch ins Mikrophon, erinnert zwischendurch mal kurz an Rudi Dutschke, den man nicht vergessen sollte, und spielt mit Versatzstücken der Massenunterhaltung. Klar, dass das Publikum auf seine Frage „Are you happy?“ mit einem gegrölten „Yeahhhhhh!“ antwortet.
Nach einem kurzen Ausflug mit dem Wälderbähnle teilt sich das Publikum. Einige wenige gehen direkt zum Bezau Beatz Clubbing in der Kaufmann Zimmerei in Reuthe, der Großteil der Musikfans will sich aber Maria Portugal & Erosão Septett in der Remise auf keinen Fall entgehen lassen. Die junge brasilianische Schlagzeugerin und Sängerin aus São Paulo, die nach einem Engagement beim renommierten Moers Festival als „Improviser in Residence“ seit zwei Jahren in Duisburg lebt, steht dem brasilianischen Songwriting ebenso nahe wie der europäischen Improvisationsmusik und der elektronischen Musik. All diese Elemente bringt sie bei Erosão, Portugals erstem Projekt als Bandleaderin, ungemein stimmig zusammen. Ihre vielschichtigen und abwechslungsreichen Kompositionen werden zum grandiosen Panoptikum aus Sounds und Stimmungen, die in einer enormen Bandbreite zwischen ungemein leisen, intimen Momenten und lautstarken, nahezu orgiastischen Kollektivimprovisationen schwanken. Der Bläsersatz kann enorm kraftvoll aufspielen und imposante Kontraste zur Stimme Maria Portugals setzen, wobei Altsaxophonistin Angelika Niescier und Tubist Carl Ludwig Hübsch für besondere solistische Highlights sorgen.
Zum Abschluss des zweiten Festivaltages ließen sich dann noch viele Musikinteressierte mit dem Dorfzügle zur Kaufmann Zimmerei bringen, wo als Höhepunkt des Bezau Beatz Clubbings der französische Teufelsgeiger Théo Ceccaldi & Kutu die Ohren und die Tanzbeine in nahezu hypnotische Schwingungen versetzten. Genial unterstützt wurde er dabei von seinem Bruder Valentin, der zu diesem Zweck vom Cello an den E-Bass wechselte, von Keyboarderin Akemi Fujimori und von Drummer Cyril Atef. Als wahre Augen- und Ohrenweide entpuppten sich die äthiopischen Sängerinnen Haleluya Tekletsadik und Hewan Gebrewold, die mit ihren gewaltigen Stimmen, ihrem Witz und ihren sexy Shows enorm Stimmung machten. Théo Ceccaldi ließ sich von den Schönheiten gerne becircen und antwortete mit mitreißenden Violin-Attacken, die selbstverständlich alle ausnahmslos dem hehren Ziel der Tanzbarkeit dienten. Besser hätte man 15 Jahre Bezau Beatz – inklusive auf der Bühne überreichtem Geburtstagskuchen – wahrlich nicht abfeiern können.

Samstag, 6. August: vom Luís Vincent Trio bis zu Vula Viel

 

Der dritte Festivaltag wurde wieder in Peter Figers Kunstschmiede eingeläutet, dieses Mal mit dem exzellenten Trompeter Luís Vincent und seinem aus Kontrabassist Gonçalo Almeida und Drummer Pedro Melo Alvez bestehenden Trio. Alle drei zählen zu den renommiertesten Musikern Lissabons und erweisen sich als spieltechnisch höchst versierte, einfühlsame Soundforscher. Viele Stücke haben einen nachdenklichen, etwas elegischen Grundcharakter, wobei der Unterschied zu den von den Skandinaviern so erfolgreich gepflegten nordischen Melancholie deutlich spürbar wird: In der portugiesischen Traurigkeit meint man immer noch die Wärme der letzten Sonnenstrahlen zu spüren. 
Anschließend ging es mit der Seilbahn ins nebelverhangene Panoramarestaurant Baumgarten, wo die begnadeten Bläser und Blödler Joe Bär & Matthias Schriefl in 1.630 Metern Seehöhe nicht nur geographisch für einen absoluten Höhepunkt sorgten. Schriefl spielt mit der linken Hand Akkordeon und gleichzeitig mit der rechten meisterhaft Flügelhorn oder Trompete. Bär brilliert auf der Tuba, aber auch auf der Trompete, wenn sein Kollege gerade anderweitig – etwa mit dem Singen eines Liebesliedes aus Odessa – beschäftigt ist. Alpenländisches kann nahtlos in einen Calypso übergehen, der Irving Berlin-Klassiker „Cheek to Cheek“ dient als Aufhänger für eine komödiantische Louis Armstrong-Story (oder umgekehrt) und „Backe, backe Kuchen“ gerät zur Punk-Nummer. Buchstäblich raumgreifend wird dann das Spiel auf zwei Alphörnern, wobei sich Schriefls Komposition vom Alpenländischen zum Funkmonster entwickelt. Ganz zum Schluss wird dann noch Michael Jackson abgefeiert. Zu diesem Anlass brilliert Schriefl mit seinem Kabinettstückchen, dem gleichzeitigen Blasen auf Flügelhorn und Trompete – rhythmisch unterstützt von Edi Nulz-Drummer Valentin Schuster, der zufällig zum Konzert stieß und sich in der Küche mit den passenden Drum-Utensilien ausrüstete. Während das Publikum erheitert und zufrieden zurück ins Tal gondelte, marschieren Bär und Schriefl weiter auf ihrer z’Fuoaß-Tour, die sie über zahlreiche Hütten und Berggipfel in den Allgäu führen wird.
In Kaspars alter Säge wartet bereits die Sängerin Vera Morais und der Saxophonist Christo Goleminov, ein blutjunges, auch privat verbandeltes Paar, das Alfred Vogel vom portugiesischen Partner-Festival Porta Jazz in Porto empfohlen wurde. Sie haben sich beim Studium in Lissabon kennengelernt und leben jetzt in Amsterdam. Morais bedient sich souverän aller Stilmittel zeitgenössischer Vokalartistik, aber auch traditioneller Stimmtechniken und begibt sich in ein spannendes Wechselspiel aus Harmonie und Reibung mit dem Saxophon. Beide bedienen sich wirkungsvoll einfachster Mittel und erreichen ohne jegliche Elektronik verblüffende Effekte. Besonders witzig gerieten die Umsetzungen von Gedichten des am Dadaismus geschulten, amerikanischen Imagisten William Carlos Williams.
Zu den künstlerischen Vorbildern von Vera Morais könnte möglicherweise auch der legendäre englische, in den 1970er/80er-Jahren im Avantgarde-Jazz und in der freien Impro-Szene bekannt gewordene Vokalartist Phil Minton zählen, der in der Pfarrkirche Bezau seinen Feral Choir präsentierte. Es handelt sich um ein gelungenes Animations-Projekt, denn Minton gelingt es in schöner Regelmäßigkeit, an drei Tagen einen bunt zusammengewürftelten Haufen Sangesfreudiger aus allen Altersstufen von den Lasten der traditionellen Sangeskunst zu befreien, aufzulockern und zu einem neuen Umgang mit Klängen und Geräuschen zu führen. „Feral“ ist mit „verwildert, wild, ungezähmt“ zu übersetzen und entsprechend befreit gaben sich auch die 17 Teilnehmer:innen des Projektchores, der von Minton zu allerhand abenteuerlichen Klangfindungen angestiftet wurde. Der Meister selber brillierte ebenfalls mit einem ungemein kraftvollen Song, der ganz und gar nicht auf sein Alter von 81 Jahren schließen ließ.
In der Kunstschmiede Peter Figer ging es gleich gesanglich weiter, allerdings auf einer ganz anderen Ebene, denn Keine Übung ist das Projekt des Leipziger Liedermachers Jan Frisch, dessen Texte einen schonungslosen, unkonventionellen und unverbrauchten Blick auf Alltagssituationen und zwischenmenschliche Befindlichkeiten werfen. Sie gehören gehört und müssen verstanden werden. Titel wie „Katastrophenmeldung vom Luxusdampfer der Unannehmlichkeiten“, „Singer-Songwriter zu Pflugscharen“, „Am Ende bin ich auch nur eine Agentur und muss schauen ob das Sinn macht“ oder „Ich bin ein ganz furchtbarer Spießer (aber damit will ich mich nur interessant machen)“ legen schon nahe, dass hier keine normalerweise übliche Singer-Songwriter-Begleitung angesagt ist. Mit dem vom Edi Nulz Trio her bekannten Gitarristen Julian Pajzs, Drummer Oliver Steidle und Bassist Hannes Hüfken hat der ungemein kraftvolle und impulsiv wirkende Frisch die ideale Besetzung für den zwischen zackigem Prog-Rock, Psychedelischem und knüppelharten Beats angelegten Soundtrack gefunden. Ein höchst vergnügliches Unternehmen, das viel Applaus erntete. Kleine Draufgabe am Rande: Im Publikum saß auch die als „Tatort“-Ermittlerin Bibi Fellner legendäre Adele Neuhauser, die bekanntlich die Mutter von Julian Pajzs ist. Und dann kam als besondere Draufgabe auch noch der 77-jährige Frank Zappa-Saxophonist und Zappa-Coverband-Spezialist Napoleon Murphy Brock auf Besuch, der gerade bei Freunden in Bregenz zu Gast ist. Wen man bei den Bezau Beatz nicht alles treffen kann!
Der argentinische Jazzpianist Leo Genovese, der in den USA einen Superstar-Status genießt, zählt seit seinem ersten Auftritt vor vier Jahren zu den größten Bezau Beatz-Fans unter den Musikern und ist fast schon so etwas wie ein Sonderbotschafter des Bregenzerwälder Mini-Festivals in der internationalen Musikwelt. Und es sagt es schon einiges aus, dass er heuer einen angebotenen Job bei Wayne Shorter und Esperanza Spalding nicht annahm, um mit seinem eigenen Trio bei den Bezau Beatz auftreten zu können. Das Trio mit Genoveses argentinischem Landsmann Demian Cabauld am Kontrabass und dem großartigen kubanischen Schlagzeuger Francisco Mela hatte vor diesem Auftritt fünf Jahre pausiert, kein Wunder dass sie nun besonders frisch, motiviert, unverbraucht und voller Spielfreude zu Werke gingen und eindrucksvoll präsentierten, was man im Gegenwartsjazz unter einem exzellenten Piano-Trio versteht. Das Spektrum reichte von meditativen Kleinoden bis zu hochenergetischen Explosionen und hemmungslosen Cluster-Orgien. Drei exzellente Individualisten, die ihre Kreativität in diesem Trio nochmals zu potenzieren verstehen.
Vula Viel nennt die auf das westafrikanische Xylophon Gyil spezialisierte Perkussionistin Bex Burch ihr Londoner Trio mit der von Skylla her bekannten Bassistin Ruth Goller und dem Drummer Jim Hart. Die während ihrer Ausbildung mit der Minimal Music von Steve Reich vertraut gemachte Burch lernte das Spiel auf dem traditionellen Instrument vor Ort bei einem dreijährigen Aufenthalt in Ghana. Vula Viel schöpfen nun aus Psychedelic, Trance, Global Pop und Afro-Beat, verwenden aber auch Elemente aus Minimal Music und Eletronica, um einen vitalen, tanzbaren Sound zu generieren. So entstehen im besten Fall hypnotisch wirkende kleine Rhythmus-Monster, die von Gollers coolen Grooves und Verzerr-Attacken und von Harts explosiver und abwechslungsreicher Rhythmusarbeit zusätzlich befeuert werden. Wenn der Rhythmus so richtig Fahrt aufgenommen hat, hält es auch Bex Burch nicht mehr am Boden, die dann während des Spielens vor dem Xylophon hüpft. Das wirkt so ansteckend, dass sich selbst Weltstar Leo Genovese von hinten auf die Bühne schlich, um sich mit kleinen Rasseln am brodelnden Geschehen zu beteiligen. Beim letzten Stück „That’s not enough“ wurde auch das Publikum zum Mitsingen eingeladen – der Titel ist wohl ein kleiner Verweis darauf, dass die Künstler:innen nächstes Jahr zu den 16. Bezau Beatz gerne wieder kommen würden. Inshallah, kann man da nur sagen. Auch wir freuen uns schon auf die nächste musikalische Tour de Force.