Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Michael Löbl · 10. Aug 2022 · Musik

Russisches Gemälde mit breitem Pinsel – Russland pur im dritten Orchesterkonzert der Wiener Symphoniker mit Marie Jacquot und Kian Soltani

Während Veranstalter mehrerer europäischer Länder in vorauseilendem Gehorsam russische Komponisten aus ihren Programmen eliminieren, bleiben die Bregenzer Festspiele gelassen und präsentierten im dritten Orchesterkonzert am Montag, den 8. August ein rein russisches Programm. Allen Beteiligten ist klar, dass Tschaikowsky, Schostakowitsch und Rimsky-Korsakoff mit Vladimir Putins Politik rein gar nichts zu tun haben. Unter der Leitung der französischen Dirigentin Marie Jacquot zeigten sich die Wiener Symphoniker in Bestform.

Viele Komponisten haben die zeitlose Geschichte von Romeo und Julia vertont, als Oper, Ballett oder als dramatische Symphonie. Peter I. Tschaikowsky wählte die Form der symphonischen Dichtung und erzählt das komplette Drama in knapp einer halben Stunde. Als Zuhörer ist man hin- und hergerissen zwischen verschiedene Stimmungen, Themen und Konflikten auf engstem Raum. Marie Jacquot und die Wiener Symphoniker begeistern durch den schwelgerischen, vollen Streicherklang und die präzisen Bläser plus Schlagwerk in den schnellen Kampfszenen. Manchmal schien es, als würde Marie Jacquot mehr aus dem Moment heraus gestalten und dadurch ein wenig den Überblick über das große Ganze verlieren. Vor allem die ruhigen Passagen wurden mehr als ausgekostet, und so hatte man nach den Schlusstönen von Romeo und Julia das Gefühl, gerade eine ganze Tschaikowsky-Symphonie gehört zu haben.

Souverän und natürlich

Marie Jacquot stammt aus Paris, war zunächst Posaunistin bevor sie in Wien und Weimar Dirigieren studierte. Nach ihrem Studium hat sie bei Kirill Petrenko in München assistiert und in den letzten Jahren sowohl im Opern- als auch im Konzertbereich eine erstaunliche Karriere gemacht. Ab 2024 wird sie die Stelle der Chefdirigentin an der Königlichen Oper in Kopenhagen antreten. Ihre Art zu dirigieren wirkt angenehm natürlich, musikalische Anweisungen werden ganz harmonisch in die präzise Schlagtechnik integriert. Nichts wirkt aufgesetzt oder einstudiert, alles erscheint logisch und mit geringem körperlichem Aufwand überzeugend.

Musikalischer Sarkasmus

Die kurze Umbaupause vor dem Solokonzert war notwendig, um vom süffigen Tschaikowsky-Sound auf eine vollkommen konträre Klangsprache umzuschalten. Das erste Cellokonzert von Dimitri Schostakowitsch beginnt bissig, spröde, sarkastischer Humor durchzieht den ersten Satz. Ohne Verschnaufpause spielen einander Orchester und Solist die Bälle zu, rhythmisch wird es immer vertrackter, bis sich in der Mitte des Satzes ein neues Instrument in die musikalische Runde hineinreklamiert: ein Horn. Es diskutiert mit, gibt dem Solisten Kontra und benimmt sich nicht selten wie ein vorlautes Kind. Diese wirklich exponierte und schwierig zu spielende Solostimme wurde von Peter Dorfmayr, einem der beiden Solohornisten der Wiener Symphoniker, hervorragend gespielt.
Dass Marie Jacquot ihn am Ende nicht alleine aufstehen ließ und ihn so um einen mehr als verdienten Soloapplaus gebracht hat, ist eigentlich unverzeihlich.  

Ein Vorarlberger Cellist macht Weltkarriere

Kian Soltani, in Vorarlberg aufgewachsener Cellist mit persischen Wurzeln, ist mittlerweile am Zenit seiner Karriere angekommen. Er musiziert unter prominenten Dirigent:innen, mit allen bedeutenden Orchestern in den renommiertesten Konzertsälen, spielt Kammermusik mit Daniel Barenboim oder Anne-Sophie Mutter und hat einen Exklusivvertrag bei der Deutschen Grammophon. Seine Einspielung des Dvorak-Konzertes mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim wird als „magisch" bezeichnet. Viel mehr geht eigentlich nicht. Das erste Konzert von Schostakowitsch gehört zum Standardrepertoire jedes Cellosolisten und selbstverständlich hat Kian Soltani das „drauf". Technisch gibt es keinerlei Probleme, sein Klang im langsamen Satz ist wunderbar rund und berührend. Außergewöhnlich auch die Zugabe: Ein eigenes Arrangement einer Schostakowitsch-Filmmusik für Celloensemble, gemeinsam interpretiert mit den Kollegen der Cellogruppe.
Nach der Pause eines der großen russischen Orchestergemälde: Scheherazade von Nikolai Rimski-Korsakow. Hier muss zunächst einmal der dicke Pinsel her, um den Sultan, der alle Ehepartnerinnen nach der ersten gemeinsamen Nacht töten will, zu porträtieren. Die leisen, lyrischen und solistischen Zwischentöne sind im Gegensatz dazu seiner aktuellen Frau zugeordnet: Scheherazade. Ihr gelingt es, den Sultan durch interessante Geschichten in 1001 Nacht umzustimmen und von seinem Vorhaben abzubringen.

Meisterhaft orchestriert

Scheherazade gehört – ohne die Qualität der Komposition in Frage zu stellen – in die Kategorie der „Orchestral Showpieces". Ganz einfach deshalb, weil es neben der Brillanz des ganzen Orchesters auch fast alle Bläsersolist:innen und Instrumentengruppen solistisch zu Wort kommen lässt. Allen voran natürlich den Konzertmeister in der Rolle der Scheherazade. Anton Sorokow ist ein Meistererzähler auf seiner Violine, die ausgedehnten Soli ziehen sich durch das ganze Stück und verleihen der Scheherazade ihre beschwörende Stimme.
Marie Jacquot dirigiert dieses Werk absolut souverän, aber auch hier hätte eine etwas straffere Tempodramaturgie dem ausufernden Orchestergemälde etwas mehr Form geben können. Die Symphoniker glänzen sowohl im Kollektiv als auch durch viele solistische Leistungen. Langanhaltender, verdienter Applaus im Festspielhaus. Was noch? Ach ja, ein hervorragender Text zu den drei Stücken von Kerstin Klaholz im Abendprogramm. Interessant zu lesen, sehr gut geschrieben – eine Freude.

Vorschau:
Bregenzer Festspiele: Orchesterkonzert 4, Symphonieorchester Vorarlberg, Leitung Leo Mcfall; Alina Pogostkina, Violine
(Strawinski, Prokofjew, Tschaikowski)
So 21.8., 11 Uhr
Festspielhaus, Bregenz

www.bregenzerfestspiele.com