Das Nederlands Dans Theater 2 beim Bregenzer Frühling (Foto: Udo MIttelberger)
Fritz Jurmann · 20. Jul 2012 · Musik

Qualität vor Quote: Die Oper „André Chénier“ am See bleibt auch im zweiten Jahr eine Top-Produktion auf der Allzeit-Skala der Bregenzer Festspiele

Die Wetterfrösche mit ihren Unkenrufen sollten wieder einmal nicht Recht behalten. Die tagsüber intensiv herbeigeredeten Gewitter lösten sich am Donnerstagabend buchstäblich in Luft auf, in der berühmt imposanten Naturkulisse konnte die Wiederaufnahme der Oper „André Chénier“ von Umberto Giordano bei den Bregenzer Festspielen völlig unbehelligt an einem lauen Traumabend über die Seebühne gehen. Unter solch optimalen äußeren Bedingungen gab es für das zahlreiche Publikum auf der nicht ganz voll besetzten Tribüne zwei Stunden lang eine noch verfeinerte Version der Erfolgsinszenierung von Keith Warner vom Vorjahr zu bewundern.

Im Vorjahr gewaltiges Minus verursacht

Es war  d i e  Opernentdeckung des vergangenen Jahres, Giordanos „André Chénier“ als Bregenzer Seeproduktion, gewürdigt von der internationalen Fachpresse, vom breiten Publikum aber ihres geringen Bekanntheitsgrades wegen nur weit unter dem langjährigen Durchschnitt einer Seeproduktion angenommen. Das von Intendant David Pountney und seinem Team mutig eingegangene „kalkulierte finanzielle Risiko“ bescherte dem Festival, verstärkt noch durch die Unbilden eines verregneten und kühlen Sommers, ein gewaltiges Minus in der Kasse, das es heuer mit einem deutlich reduzierten Programm wieder auszubügeln gilt.

Doch die Hoffnung stirbt auch in Bregenz zuletzt, und wenn Pressejubel und Mundpropaganda vom Vorjahr heuer nur jene 15 Prozent wettmachen, die man üblicherweise im zweiten Jahr einer Seeproduktion verliert, dann wäre man wieder auf dem Stand vom letzten Jahr. Nicht unbedingt ein Grund zu übertriebenem Jubel, aber immerhin zur Genugtuung, dass man in Bregenz diesmal mit besonderer Deutlichkeit und großem Selbstbewusstsein Qualität vor Quote gestellt hat.

Erhöhte Durchschlagskraft des Bühnengeschehens

Diese Maxime gilt heuer ebenso, und das mit einer noch größeren Stringenz und Durchschlagskraft des Bühnengeschehens, das auch in der Präzision seiner Abläufe, der Variabilität seiner wunderbaren Lichtstimmungen (Davy Cunningham) und der Pracht und Stimmigkeit der Kostüme (Constance Hoffman) einfach umwerfend ist. Der Dichter André Chénier, eine historische Figur, wird vom Verfechter der Ideen der französischen Revolution selbst zum Verfolgten und landet mit seiner Geliebten Maddalena auf dem Schafott: Die Revolution frisst ihre Kinder.

Diese berührende Liebesgeschichte, breitwandig und großflächig so in Szene gesetzt, dass es auch wenig Opernkundige wie Lieschen Müller aus Wanne-Eickel auf den billigen Plätzen verstehen, lässt auch diesmal niemanden kalt – so tief können auch die heurigen Sommertemperaturen gar nicht sinken. Das ist auch am Donnerstag zu spüren, als die geballten Eindrücke dieser Produktion das Publikum im weiten Rund sofort in ihren Bann schlagen. Zwei Stunden lang liegt nichts als gespannte Stille und Konzentration über den Zuschauern – die durchkomponierte Oper lässt keinerlei Zwischenapplaus nach Arien oder Duetten zu. Umso herzlicher schließlich der Schlussapplaus für die Protagonisten und das Leading Team.

Revolutionsführer Marat in seiner Bodensee-Badewanne

Regisseur Keith Warner hat auch gar nicht den Fehler gemacht, in der von David Fielding geschaffenen 60 Tonnen schweren Kopfskulptur des Revolutionsführers Marat in seiner Bodensee-Badewanne als ungemein stimmige Metapher allzu viel an seinem intelligenten Konzept vom Vorjahr verändern oder verbessern zu wollen, denn es hat ja gestimmt. Nur da und dort spürt man heuer eine gewisse Entschlackung und Straffung der dicht gedrängten Massenszenen auf den dafür relativ kleinen Spielflächen rund um den Riesenschädel. Der erste große Höhepunkt im 1. Akt mit dem Aufeinandertreffen des Menuett tanzenden Adels mit Bauern und Bürgertum als Signal des sich anbahnenden Geisteswandels der Revolution etwa wird dadurch noch weit kämpferischer und bewegter als im Vorjahr, verstärkt auch durch die von David Blake geschaffene schrille Musikbrücke. Diese Fokussierung des sozialen Konfliktes als Auslöser der Revolution wird dadurch einleuchtender.

Aber auch an einer noch stärkeren Profilierung in der Personenführung der Hauptpartien in ihrem emotionalen Zwiespalt wurde sichtbar gearbeitet – sonst bleibt alles beim Alten, und das ist auch gut so. Denn besser geht es nicht. Aber man entdeckt beim zweiten Hinsehen auch so manche Details, die einem zunächst entgangen sind. Auch, dass die Kunststücke der Stuntmen bei allem Respekt vor ihrem Einsatz manches Mal Dimensionen annehmen, die besser in eine Zirkus- statt in eine Opernvorstellung passen würden. Auch die Zahl derer, die unter den „Ahs!“ und „Ohs!“ des Publikums bei Kämpfen ins Wasser fallen (müssen), hat heuer die Schmerzgrenze überschritten. Etwas weniger wäre hier mehr gewesen, aber das Publikum will eben auch auf dieser Ebene bei Laune gehalten werden.

Gesungen und musiziert wird wieder erstklassig

Der Musik tut dies letztlich keinen Abbruch, wenn man die Gabe hat, sich wirklich darauf zu konzentrieren. Und das zahlt sich in jedem Fall aus, denn gesungen und musiziert wird auch in diesem Jahr am See wieder so erstklassig, dass man sich über weite Strecken in einem der wichtigen Opernhäuser in unserem Umfeld wähnt, wären da nicht der Sternenhimmel und das Plätschern des Sees. Allein die sängerische und schauspielerische Leistung der drei Hauptpartien in der internationalen Premierenbesetzung ist ein Ereignis für sich.

So wie im Vorjahr besticht der mexikanische Tenor Héctor Sandoval in der Titelrolle als Bühnenheld, der mit enormer Strahlkraft, Höhensicherheit und reicher Farbpalette alles Wünschenswerte aus seinem Fach einbringt. Als Maddalena feiert die russische Sopranistin Tatiana Serjan, die man in Bregenz bereits in drei Opernproduktionen am See bewundert hat, ihr Rollendebüt – glänzend disponiert, überzeugend im Triumph wie in ihrem Schmerz. Spielerisch bedrohlich, stimmlich von umwerfender Präsenz schließlich der schwedische Bariton John Lundgren als korrupter Diener Gérard. Auch die weiteren Partien sind ausgesprochen sorgfältig besetzt und ergeben das Bild eines klanglich in sich gerundeten Ensembles ohne jede Schwäche.

Ausgetüftelte Soundanlage

Die Soundanlage, die Techniker und Musiker in jahrelanger Feinarbeit ausgetüftelt und zur Perfektion gebracht haben, überträgt dieses Fest der Stimmen ohne Abstriche 1:1 und spielt wieder alle Stücke. Allein der monumentale Klang des Orchesters entspricht genau der Opulenz der Bühne, die Protagonisten sind mit Richtungshören jederzeit deutlich zu orten, und alles wird musikalisch wie von unsichtbarer Hand zusammengehalten von dem alten „Seehasen“ Ulf Schirmer als Dirigenten, der drinnen im Festspielhaus am Pult des Orchesters steht und nur über Monitore und Lautsprecher eine Koordination mit der Bühne zusammenbringt, die einfach nur Staunen macht. Die Wiener Symphoniker selbst, die man auf der Tribüne über Bildschirme bei der Arbeit bestaunen kann, sind hörbar in großartiger Spiellaune, verbinden elegante Italianitá mit der Brillanz ihrer großen traditionellen Klangkultur. Der Philharmonische Chor Prag, Leitung Lukás Vasilek, und der verlässliche, von dem omnipräsenten Benjamin Lack einstudierte Bregenzer Festspielchor sorgen in den groß besetzten Szenen immer wieder für packende musikalische Momente.

Es ist eines der großen Rätsel der Operngeschichte, warum sich „André Chénier“ allein seiner Musik wegen nicht stärker durchgesetzt und im Repertoire der großen Häuser erhalten hat. Denn diese Musik im Bereich des Verismo mit einer Mischung aus Verdis Melodienseligkeit und Puccinis Raffinement ist schlicht eine Wucht, so leidenschaftlich, so glutvoll und – im Wortsinn! – auch blutvoll, dabei auch in zartesten Lyrismen schwelgend und geprägt von großen, zündenden Arien und exzellent instrumentierten Orchestermelodien, die man alle unter Opernfreunden heute leider viel zu wenig kennt. Bregenz kann da Abhilfe schaffen.

„André Chénier – etwas vom Besten, was man auf der Allzeit-Skala dieses Festivals je am See erlebt hat. Ein Bregenzer Sommertraum. Man wünschte, dass es für die Festspiele daraus kein böses Erwachen gibt, wenn Wetter und Publikum wieder nicht wie erwartet mitspielen sollten. Deshalb: Buchen, Hingehen, Anschauen!

 

Die Seeproduktion der Oper „André Chénier“ von Umberto Giordano wird von den Bregenzer Festspielen fast täglich bis 18. August. Beginn der Juli-Vorstellungen 21.15 Uhr, im August 21.00 Uhr.

Details über www.bregenzerfestspiele.com