Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Fritz Jurmann · 01. Mär 2012 · Musik

Organist Jürgen Natter wagt sich in Altach mit vier „Friends“ an ein musikalisches Experiment: „Nicht notiert – improvisiert!“

Es braucht schon eine gehörige Portion Risikobereitschaft und Kaltblütigkeit, mit einem Konzert an die breite Öffentlichkeit zu gehen, bei dem keine einzige Note notiert, also komponiert ist, sondern ausschließlich improvisiert wird. Solches hat nun der Feldkircher Organist Jürgen Natter (30) erstmals zusammen mit vier exzellenten „Friends“ in der zweiten seiner Altacher Orgelsoireen gewagt – und dabei wenn auch nicht einhelligen Jubel, so doch zumindest den Respekt seines Stammpublikums errungen, dem dabei einiges an Toleranz abverlangt wurde.

Die Optik ist bestechend. Die Kirche ist in mystisches Halbdunkel getaucht, daraus ragen die drei grell farbig beleuchteten Dreiecks-Türme der Rieger-Orgel wie futuristische Christbäume heraus. Die Zuhörer sitzen erwartungsfroh auf einer Empore genau gegenüber der Orgel, also gewissermaßen auf Augenhöhe mit dem Instrument und den Musikern. Aber sie hören eine Stunde lang keine einzige bekannte Melodie, auch nur eine kleine Phrase, an der sie ihre Erinnerung irgendwie festmachen könnten. Alles an diesem Projekt ist frei improvisiert, entsteht eine Stunde lang spontan aus dem Augenblick und der unerschöpflichen Fantasie der fünf Musiker heraus, nach jener Methode, wie sie schon den Urvölkern im Umgang mit ihren ersten Trommeln und Blasinstrumenten geläufig war. Eben „Ex improviso“, wie der Lateiner sagt, also „ohne Vorbereitung“.

Improvisation mit thematischen Ausgangspunkten

Mit Jazz, an den man beim Stichwort Improvisation zunächst spontan denkt, hat das nichts zu tun. Stilistisch neutral und keiner Richtung zugehörig, entsteht hier wie aus dem Nichts heraus im weiten Kirchenraum ein riesiger Bogen aus Raum, Licht und vor allem Klang, bäumt sich auf zu gewaltigen Eruptionen, macht kurz einen Abstecher beim Tango und verebbt wieder ins Nichts: Improvisation natürlich mit einer zuvor abgesprochenen Dramaturgie an Strukturen und Spannungselementen – alles andere wäre Chaos. Dazu gibt es zwei Vorlagen, thematische Ausgangspunkte, an denen sich die Einfälle der Musiker emporranken. Das ist einerseits das Hauptthema aus der wenig bekannten Symphonie Nr. 4 C-Dur (1933) des österreichischen Spätromantikers Franz Schmidt, aus dessen Nachlass in der Hauptsache das Oratorium „Das Buch mit den sieben Siegeln“ und das Vorspiel zu seiner Oper „Notre Dame“ übrig geblieben ist, und der „Gesang der Seele durch die dunkle Nacht“, eine Dichtung des spanischen Mystikers und Mönchs Juan de la Cruz (1542-1591), die in drei Teilen rezitiert wird (Georg Giesinger).

Natter domestiziert die Rieger-Orgel

Jürgen Natter, der als Organist, derzeitiger Dirigent des Kirchenchores Altach und Musikveranstalter immer wieder für spontane Ideen dieser Art gut ist, bildet als „Erfinder“ dieses Projektes selbst natürlich auch die Leitfigur an der Rieger-Orgel, die er mit großem Körpereinsatz in Blitzesschnelle zu den vielfältigsten Farben und Klängen domestiziert – Nachtdunkles, Zwielichtiges, grelle Klangblitze. Im Mittelteil,  zu dem wie aus dem Nichts eine zart gelockte, schlanke Frauengestalt wie die Märchenfee mit weichen Klarinettentönen auftaucht (Sandra Schmid, Altstätten), macht er am Cembalo im Altarraum deutlich, dass die literarische Vorlage dieses Projektes nicht nur ein Glaubens-Manifest, sondern auch ein nächtliches Liebeslied ist. Auch der bekannte Dornbirner Jazzmusiker Martin Eberle stellt auf seiner Trompete aus dem halligen Kirchenraum heraus das Symphoniethema samt Echowirkungen vor, kommt später mit fetzigen Ideen im Duett mit dem wendigen Wiener Kontrabassisten Manu Mayr zu interessanten Ergebnissen. Dazu führt der Bregenzer Claudio Spieler als einfallsreicher Percussionist die Zuhörer sanft in seine Welt der Geräusche und Rhythmen.

Der Schalttag als „verrückter“ Tag

Ein dichtes Klanggewebe von starker Imaginationskraft und meditativer Eindringlichkeit, die sich denen offenbart, die bereit sind, sich diesem Experiment ohne Vorbehalte zu öffnen. Zum liebenswerten Aperçu wird Natters Idee, dieses Projekt genau am 29. Februar zu veranstalten – Schalttage sind nach seinem Verständnis nämlich „verrückte“ Tage, die eben auch nach außergewöhnlichen künstlerischen Entsprechungen verlangen. Beim anschließenden Beisammensein im Pfarrsaal bei gratis Wein, Brot und Käse ist jedenfalls ausgiebig für Gesprächsstoff gesorgt.

In der dritten Altacher Orgelsoiree am 30. Mai, 20 Uhr, befriedigt Jürgen Natter dann gemeinsam mit der in Vorarlberg tätigen Sopranistin Sabine Winter unter dem Motto „Ohrwürmer von der Orgelempore“ die Erwartungshaltung der Liebhaber schöner, populärer geistlicher Melodien wie dem „Ave Maria“ von Bach-Gounod oder dem „Largo“ von Händel in kompetenter, liebevoller Darbietung.