Nach Mutation zur Barockoper: Händel-Oratorium „Jephtha“ weckt am Landestheater hohe Erwartungen für 2022
Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Nach der beeindruckend verlaufenen Generalprobe des dramatischen Oratoriums „Jephtha“ von Georg Friedrich Händel vom Freitag, dessen Premiere und Folgeaufführungen wegen Corona um ein Jahr verschoben werden müssen, bleibt für die enttäuschten heimischen Opernfreunde wenigstens diese Hoffnung. Man hat heuer am Landestheater die seit über 30 Jahren traditionelle jährliche Opernproduktion mit dem Symphonieorchester Vorarlberg zunächst gewissermaßen „auf Verdacht“ produziert und bis zur Generalproben-Reife gebracht. Und damit nicht gar alles umsonst war, weil an ein „Aufsperren“ im Moment noch nicht zu denken ist, machte man diese „halböffentlich“ für Ausgewählte zugänglich, bevor die Produktion notgedrungen für ein Jahr konserviert in der Versenkung verschwindet.
Mit dieser rationellen Lösung wollen Intendantin Stephanie Gräve und ihr Team dann mit nur noch geringem zusätzlichen Probenaufwand den verdienten Erfolg einfahren. Dazu hat sich in einem beispielhaften Akt von Solidarität das gesamte an dieser Produktion beteiligte künstlerische und technische Personal bereits vertraglich für deren Wiederaufnahme in der nächsten Saison verpflichtet. Und so saßen wir denn da, ein Häuflein Kritiker und „Fachpublikum“, penibel verteilt im Zuschauerraum mit großen Abständen, in dem zum Labor umfunktionierten Foyer frisch getestet und maskiert, während „The Unmasked Singers“ sich auf der Bühne nach Kräften mühten, uns auf hohem Niveau zu unterhalten und darob das Fehlen eines „normalen“ Publikums vergessen zu machen.
Das Wichtigste dabei für die meisten von uns war wohl ohnehin nicht, WIE gespielt, sondern DASS überhaupt gespielt wurde – endlich wieder Livemusik auf einer Opernbühne im Land, nach vier Monaten der kulturellen Totenstille! Das tat gut bis in die tiefste Kritikerseele. Doch es war nicht bloß Trostpflaster und Berufspflicht, diesen Abend abzusitzen, sondern es entstand daraus wirklich ein auch berührendes musikalisch-szenisches Erlebnis.
Risikoreiche Stückwahl
Die Stückwahl war ja, genauer betrachtet, nicht ganz ohne Risiko. Denn Händels „Jephtha“ ist dem heimischen Publikum, das seit über 30 Jahren in den jährlichen Opernproduktionen am Landestheater mit meist gängigem Repertoire verwöhnt wird, wenig bekannt. Dazu ist auch das Genre Barockoper, ausgenommen vor ein paar Jahren Glucks „Orpheus und Eurydike“, für Bregenz neu, vor allem mit einem dramatisierten Oratorium, das erst seit einigen Jahren einer im virologischen Bereich „Mutation“ benannten Umwandlung unterzogen und damit als effektvolle Barockoper für das internationale Repertoire entdeckt wurde. Bei der eigenen Anpassung war man nicht zimperlich, das ausufernde dreistündige Original wurde in Bregenz radikal auf pausenlose zwei Stunden zusammengestutzt, ohne dem Werk dabei Schaden anzutun.
Im Gegenteil. Denn nur in so gestraffter Form kann nach heutigen Gepflogenheiten diese etwas eigentümliche Geschichte im letzten Oratorium des bereits halbblinden Händel von 1752 kompakt erzählt werden. Es ist die um 1050 vor Christus spielende alttestamentarische Begebenheit um den verzweifelten Feldherrn Jephtha, der mit den Israeliten in den Kampf zieht und angstvoll seinem Gott Jehova verspricht, ihm für seine Hilfe nach gewonnener Schlacht den ersten Menschen zu opfern, dem er begegnet. Dass dies seine eigene Tochter ist, gibt dem Plot die enorme Spannung und macht die innerliche Zerrissenheit deutlich zwischen unerschütterlichem Gehorsam zu Gott und der Liebe zu den Menschen.
Aktuelle Regiebezüge
Dass man eine so angejahrte und mit dem Mief der Jahrtausende behaftete Geschichte nicht unkommentiert darbieten würde, schien klar. Man hat sich dafür erstmals in Bregenz den bekannten deutschen Regisseur Stefan Otteni an Bord geholt, der sich schon bei Theaterprojekten im Nordirak mit der Grundsatzfrage, wie weit Glaube gehen darf, intensiv künstlerisch auseinandersetzte und sie auch hier mit deutschen, teils literarischen Dialogen im englisch gesungenen Original einbringt. Sondermeldungen von der Front aus einem quäkenden Volksempfänger stellen Bezüge zum Zweiten Weltkrieg her. Vor Thriller-Effekten wie blutgetränkten Köpfen und Händen im Chor schreckt die Regie ebenso nicht zurück wie vor einem kitschig beflügelten schneeweißen Engel (die heimische Sopranistin Veronika Vetter) wie aus einer bebilderten Kinderbibel, der das Happy End verkündet: Iphis wird nicht geopfert, sie darf fortan als jungfräuliche Priesterin dem Herrn dienen, und Jephtha thront am Schluss im grellen Scheinwerfer auf jenem Götzenbild, das seine Untertanen am Beginn angebetet haben.
Dies alles ergibt einen eigenwilligen Kontrast zu Händels ungebrochener schöpferischer und emotionaler Kraft in seinen Chören, Arien und Orchesterteilen, die unter den Händen des gefragten österreichischen Barockspezialisten und Dirigenten Heinz Ferlesch, ebenfalls eine Bregenz-Premiere, eine sorgsame und wunderbar stilistische und klangliche Deutung erfahren. Das schlank besetzte und dadurch auch nie zu laute Symphonieorchester Vorarlberg klingt hier im Non vibrato historisch informiert wie ein „echtes“ Barockorchester, hoch konzentriert und spannend. Dazu kommt das große Verständnis des Dirigenten für Stimmen. Er lässt den zahlenmäßig kleinen, aber klang- und aussagekräftigen Chor aufblühen, der zwar unter „Bregenzer Festspielchor“ firmiert, in der Hauptsache aber mit tollen jungen Stimmen von Studierenden des Landeskonservatoriums besetzt ist. Benjamin Lack hat sie so perfekt auf ihre Aufgabe vorbereitet, dass sie auch während ihrer lockeren Choreografien noch hochklassige gesangliche Leistungen erbringen und im grandiosen Klagegesang zum Ende des 2. Aktes, „How dark, O Lord, are thy decrees“, zu ganz großer Form auflaufen.
Erstklassige Besetzung
Ferlesch trägt aber auch die Sängerinnen und Sänger des Ensembles wie auf Händen, atmet mit ihnen mit und ermöglicht so auch im vokalen Bereich Außergewöhnliches. Die Besetzung ist erstklassig gewählt, alle sind hörbar dem besonderen Geist der Alten Musik verpflichtet und gehen so darin auf wie der Basler Michael Feyfar in der Titelrolle. Er scheint die altenglische Gesangstradition mit der Muttermilch erhalten zu haben und bringt auch seinen inneren Zwiespalt unglaublich packend und glaubhaft zum Ausdruck. Als seine Tochter Iphis gibt die Österreicherin Elisabeth Wimmer mit jugendlich frischem Sopran eine starke Leistung ab, nur ihre gesprochenen Dialoge sind zu leise. Feine Mezzotöne bringt die Wienerin Cornelia Sonnleithner als Jephthas Gattin Storgè ins Geschehen, der im Land bekannte Bass Thomas Stimmel als Bruder Zebul liefert kräftige Akzente, mit der hohen Kunst des Countertenors verkörpert James Hall als Hamor den Geliebten von Iphis, der schließlich auf sie verzichten muss. Die Sprechrollen mit Maria Lisa Huber und Nico Raschner sind eine Erfindung der Inszenierung.
Jetzt ist entgegen meiner Absicht doch eine Premierenkritik daraus geworden, weil diese Generalprobe auf so exzellentem Niveau auch eher den Begriff „Vorpremiere“ verdient hätte. Am Rande bekam man auch mit, dass sich in diesem Ensemble auch eine tolle Stimmung breitmachte, eine Art „Jetzt erst recht“-Feeling, das man sich in hoffentlich bessere Zeiten hinüberretten sollte. Schon jetzt beeindruckte auch die Entschlossenheit, mit der Theaterintendantin Gräve dem KULTUR-Berichterstatter mitteilte: „Wenn am Montag die Gastro öffnen darf und wir nicht, dann werde ich ernstlich böse.“ Man glaubt ihr das aufs Wort.
Die Hörfunk-Aufzeichnung von „Jephtha“ wird am Sonntag, 7. März, 19.00 Uhr, bei Radio Vorarlberg gesendet.