Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Silvia Thurner · 20. Mär 2022 · Musik

Musik, schmerzhaft nah an der Realität – das Meisterkonzert mit Pianist Igor Levit wirkt noch lange nach

Dass das vierte Bregenzer Meisterkonzert der aktuellen Saison mit dem Pianisten Igor Levit und seiner Deutung der „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson ein besonderes Ereignis werden wird, war seit langem klar. Dass aber das 1962 komponierte „Jahrhundertwerk“ und dessen Inhalt im März 2022 so aktuell sein wird, ist eine erschreckende Tatsache. Igor Levit stellte mit seiner emotional alles gebenden Werkdeutung einmal mehr unter Beweis, dass er zu den besten Musikern unserer Zeit zählt.

Vor dem Konzert führte Igor Levit die Zuhörenden in den Kosmos des Werkes von Ronald Stevenson ein. Er bezeichnete die Komposition als eine in Musik gefasste ‚Internationale‘, die schmerzhaft nah an der Realität sei. Der schottische Komponist Ronald Stevenson legte seiner Passacaglia ein Ostinato-Motiv aus den Tönen D-S-C-H zugrunde und verwies damit auf den Komponisten Dimitri Schostakowitsch. Ihm ist das 85-minütige Werk auch gewidmet, im Gedenken daran, dass Schostakowitsch sein ganzes Leben lang in der damaligen Sowjetunion politischen Repressalien ausgesetzt war.
Unterdrückung, Leid, Gedenken an ermordete Kinder und Erwachsene, kriegerische Konfrontationen, Kräftemessen und Diskurs, aber auch Verbindendes, Versöhnliches und Annäherungen waren bei diesem Meisterkonzert mit einer kompositorischen und interpretatorischen Ausdruckskraft zu erleben, die schwer oder gar nicht in Worte zu fassen ist. Es wäre so viel zu schreiben über Themen, Zitate, spieltechnische Raffinesse, meisterhafte Virtuosität, unterschiedlichste harmonische und rhythmische Farbgebungen und spannende Transformationen musikalischer Motive in verschiedene musikalische Genres.

Musik und aktuelle Kriegsbilder

Mit allergrößter Intensität spannte Igor Levit die Phrasierungsbögen über das gesamte Werk hinweg. Bedrückend war besonders der innig dargebotene Pibroch, ein Lamento auf die ermordeten Kinder während des Zweiten Weltkriegs. Wohl viele im Bregenzer Festspielhaus hatten dabei die aktuellen Bilder der leeren Kinderwägen aus Kiew vor Augen. Die Wirkmacht der Musik steigerte die Trauer und Wehmut darüber zusätzlich.
Im ersten Abschnitt waren aber auch lichte Momente erlebbar, beispielsweise wenn das Anpeilen von Zielpunkten den erzählerischen und tänzerischen Duktus humorvoll unterstrich, aber auch rebellische Beharrlichkeit aufkeimte. Stilisierte Tanzrhythmen und einfache Themenbildungen verströmten zudem eine große immanente Spannung.
Mitten hinein in kriegerische Auseinandersetzungen führte Igor Levit im zweiten Teil, wo Themenkomplexe aufeinanderprallten und gegeneinander geführt wurden, harte perkussive Schläge sowie grollende Pedaltöne bis hin zu Clustern das Klanggeschehen bestimmten.
Doch schließlich lichteten sich die Klangballungen und die Musik nahm einen versöhnlichen Ton an. Eindrucksvoll kam im dritten Teil die Klarheit des kontrapunktischen Satzes zur Geltung, nicht zuletzt deshalb, weil die satztechnische Ordnung der musikalischen Gestalten wieder nachvollziehbar war. Das Aufklaren und die Verbindung der Tongruppen d-s-c-h einerseits und b-a-c-h andererseits entwickelten eine große Sogwirkung. Wie Glockenschläge artikulierte Igor Levit das Thema des „Dies irae“ in den Basslagen.
Klanglich abgehoben entfaltete sich die Schlusspassage, in der der Duktus noch einmal Fahrt aufnahm und suchende Gesten die Frage implizierten, wohin der musikalische Fluss führen wird. Mit einem harmonisch offenen Schluss im Pianissimo und einer lange gehaltenen Stille endete das Werk.

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