Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Fritz Jurmann · 24. Jul 2015 · Musik

Hoffmann als tragischer Held – Die zweite Opernpremiere der Festspiele wird dank Regisseur Stefan Herheim zum spektakulären Event

Da tummeln sich seltsam gekleidete Gestalten auf der Bühne des Festspielhauses, wie in einem Bilderbuch für Transsexuelle. Dabei wird hier am Donnerstag als Hausoper bei den Bregenzer Festspielen Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ gegeben – in dieser Deutung freilich sicher weltweit einzigartig. Damit ist auch die von der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka verfügte, von vielen zunächst geringgeschätzte Hinwendung von David Pountneys Uraufführungsserie zum „Repertoire“ allein durch die Verpflichtung des international ebenso gefeierten wie gefürchteten Regisseurs Stefan Herheim (45) hinreichend legitimiert.

Wer hätte sich gedacht, dass ein solches Kaliber, bei dem Spannung, Diskussionen, vielleicht sogar Skandale vorprogrammiert sind, einmal den Weg nach Bregenz finden würde? Der für seine Arbeiten u. a. drei Mal als „Opernregisseur des Jahres“ der „Opernwelt“ ausgezeichnete Norweger ist hier in zweifacher Hinsicht als Debütant am Werk. Er inszenierte durch die ihm aus Graz gut bekannte neue Intendantin überhaupt zum ersten Mal in Bregenz. Und wagte sich erstmals auch an ein so komplexes Werk wie „Hoffmanns Erzählungen“, mit dem ihn zuvor so etwas wie scheue Zuneigung verband. Das nicht unproblematische, teils auch provozierende und dennoch überaus faszinierende Ergebnis, das er nach ausgiebiger Probenarbeit präsentierte, wurde vom Premierenpublikum mit Standing Ovations und viel Jubel quittiert, in den sich freilich auch deutliche Buhrufe für die Regie mischten. Skandal gab es keinen.

Offenbach war eigentlich Kölner

Der gebürtige Kölner Jacques Offenbach hat in seinem letzten Lebensjahr 1880 diesen komplexen Stoff als „Phantastische Oper“ unvollendet hinterlassen – eine Parallele zu „Turandot“ am See. Eine große Oper war damals nach Dutzenden von Operetten der große Wunschtraum des genialen Spötters, der in Paris reüssierte. Als Textvorlage dienten ihm Erzählungen des Dichters und Komponisten E. T. A. Hoffmann (1776 – 1822), die bereits als Schauspiel erfolgreich waren. So wurden sieben Erzählungen ausgeschmückt und auf Hoffmann selbst bezogen, in einer Verzahnung von Traum und Wirklichkeit, in der skurrilen Fantastik der Figuren und als Vereinigung von Opéra comique und deutscher romantischer Oper – also weniger eine Oper im herkömmlichen Sinne als vielmehr Musiktheater mit vielen Facetten und Farben. In seiner melodischen Erfindungskraft gelang Offenbach dabei eine vor Einfällen sprühende und glänzend gearbeitete Partitur, der der Musikfreund auch eine Reihe von Allzeit-Hits verdankt, zuvorderst natürlich die unsterbliche „Barcarole“.

Stefan Herheim hat schon im Vorfeld für sich die Befassung mit diesem komplexen Stoff als „Abenteuer mit offenem Ausgang“ bezeichnet. Er hat zunächst bei einer etwas verworrenen Quellenlage des unvollendeten Werkes aus zahlreichen Fund- und Bruchstücken eine eigene „Bregenzer Fassung“ in französischer Originalsprache erarbeitet, mit der er auf den vielen komplexen Ebenen das Unfertige, Reliefartige dieses Stücks nicht vollenden, sondern in seiner Zwielichtigkeit begreifbar machen wollte. In einem in dieser Art neuen Vorspiel, bevor der 1. Akt in Luthers Keller beginnt, gestaltet er eine „Theater-im-Theater“-Situation, die sich in einem Nachspiel mit prächtig aufgemotztem Finale rundet. That’s it.

Unter die Oberfläche geblickt

Doch ganz so simpel, wie es damit den Anschein hat, ist die Chose bei weitem nicht. Herheims aktuelle Version weicht zwar deutlich von der glatt polierten Oberfläche des Werkes ab, wie man es üblicherweise in den großen Opernhäusern vorgesetzt bekommt. Es gibt aber in dieser Vielschichtigkeit auch da noch ungelöste Fragen, für die auch dieser Regisseur oft verblüffende Antworten bereithält. Die praktische Umsetzung gelingt Stefan Herheim in glänzender psychologischer Deutung auf penibel ins Detail erarbeitete, stets logische Weise, mit extrem vielen Einfällen und Sinn für einen nie überzogenen, feinen Humor. Seine Arbeit ist aber auch immens musikalisch, geprägt von einem engen Kontext zur Partitur. Allerdings auch auf seine spezielle Denkart, die auch die Provokation ganz bewusst in Kauf nimmt – nicht um der Provokation willen, sondern als Ausdrucksmittel.

Hoffmann ist für ihn ein Mann, der keine Frau, nur sich selbst lieben kann und dadurch versucht, selbst Frau zu sein. Ein letztlich tragischer Held also. So hinterfragt Herheim in einem klugen Kunstgriff die Rollen der Geschlechter, hebt deren Identität untereinander einfach auf und macht Übergänge zwischen männlich und weiblich, auch zwischen den Rollen fließend und lässt damit den Zuseher oftmals etwas verwirrt zurück.

Stella mit einem Travestie-Künstler besetzt

Diese Verunsicherung gelingt ihm am eindrücklichsten, indem er die erste von Hoffmanns vier Geliebten, Stella, mit einem Mann besetzt, genau genommen mit einem Travestie-Künstler à la Conchita Wurst, der eine genaue Zuordnung offen lässt. Eine durchaus ironisierende Annäherung an die Gender-Frage, der Par Pelle Karlsson eine brillant schillernde Bühnenpräsenz verschafft. In dieser Figur spiegeln sich auch bereits die weiteren drei Begegnungen Hoffmanns, die letztlich alle zum Scheitern verurteilt sind.

Da ist die Puppe Olympia, das Geschöpf des Physikers Spalanzani. Sie trumpft mit einer wunderbaren Koloraturarie auf, die mit einem angedeuteten Geschlechtsakt verknüpft wird, während per Video das skandalbehaftete Gemälde eines weiblichen Puppen-Aktes „L’Origine du monde“ („Der Ursprung der Welt“) von Gustave Courbet zugespielt wird. Da ist die schöne, eiskalte Kurtisane Giulietta, die sich im Venedig-Akt mit einer „Barcarole“ aus schwarzen Särgen als Verbindung zwischen Liebe und Tod mehr ihren Liebhabern als Hoffmann zuwendet. Und da ist auch die schwindsüchtige Sängerin Antonia, die aus Gesundheitsgründen nicht mehr singen darf. Als sie es trotzdem tut, bricht sie tot zusammen. Hoffmann verharrt nach diesen Misserfolgen, diesem wirbelnden Tanz auf dem Vulkan, als Kaputter, Zerbrochener am Leben in Verzweiflung. Trost bleibt ihm im mächtigen Chorfinale. Mit einem religiös verbrämten Choral im langsamen Dreivierteltakt wird die Quintessenz dieser Geschichte deutlich: „Groß ist man durch die Liebe, größer noch durch das Leid.“

Korsagen für alle

Eine Konsequenz aus der Besetzung der Figur der Stella wird von Herheim beinhart durchgezogen: Ihr/sein gewagtes Outfit mit blonder Perücke, Korsage, schwarzen Strapsen und Netzstrümpfen samt High Heels wird im weiteren Verlauf zur allgemeinen Bekleidungsvorschrift, etwa für die Chordamen, aber auch, zum Gaudium des Publikums, für die durchaus männlich gepolten Solisten Hoffmann und Dr. Mirakel. Und auch Herheim lässt, wie Marelli am See, die Figur des Komponisten Offenbach auf der Bühne durch einen Diener täuschend echt präsent werden.

Bühnenbildner Christof Hetzer hat eine riesige Treppe mit schwer geschmiedetem Geländer auf die Drehbühne gestellt, die mehrfach zur Showtreppe wird, auf der man auftreten, aber auch abstürzen kann so wie Stella gleich am Beginn. Die aber offenbar auch ihre technischen Tücken hat, denn mitten im Lied von Kleinzack im 1. Akt geht der Vorhang zu – eine Bremse in den bewegbaren Elementen hat sich verklemmt und verursacht eine kurze Unterbrechung – bange Minuten für das Team. Die wuchtigen Elemente sind letztlich ebenso pompös wie variabel, geben mit kleinen Verschiebungen die weiteren, liebevoll eingerichteten kleinen und größeren Räume für die Handlung frei. Prächtig ins Licht gesetzt werden sie durch Andreas Hofer. Die Kostüme bestehen natürlich auch nicht nur aus Korsagen. Esther Bialas konnte da ihrer Fantasie gerade im Olympia-Akt mit den Puppen freien Lauf lassen, hat aber auch etwa die 20 Herren des Chores und den Gefährten Nicklausse als lauter Hoffmanns mit Wuschelkopf und Frack geklont – ein faszinierender Eindruck.

Exzellenter Prager Philharmonische Chor

Überhaupt erfüllt der hier längst hoch geschätzte Prager Philharmonische Chor unter Lukás Vasilek diesmal so exponierte Aufgaben im sängerischen, choreographischen und schauspielerischen Bereich, wie man sie eigentlich nur einem professionell geschulten Opernchor zutrauen würde. Die rund 40 Damen und Herren werden am Ende zu Recht vom Publikum bejubelt. Desgleichen sind die Wiener Symphoniker im Graben von diesem Werk, von dem es ja ursprünglich auch eine Version für die Wiener Hofoper gab, hörbar angetan. Sie haben neben dem Wiener Charme auch die französische Eleganz, den Esprit und Humor intus, den diese Musik verlangt. Und sind beim Dirigenten Johannes Debus sehr gut aufgehoben, der sich selber bei der Version für Bregenz sehr viele Gedanken über dieses Werk gemacht hat.

Die Mörderpartie des Hoffmann selbst, der praktisch drei Stunden dauernd auf der Bühne steht, ist dem schwedischen Tenor Daniel Johansson wie auf den Leib geschneidert: die Offenbachsche Tiefsinnigkeit spiegelt sich in seinem Wesen ebenso wie das Unfertige dieser tragischen Figur, das Ratlose und Rastlose. Zudem verfügt er über einen toll strahlenden, trotz der Strapazen niemals überstrapazierten Tenor von großer Präsenz. Dem deutschen Bariton Michael Volle gelingt es in diesem Rollendebüt, alle vier Bösewichter Lindorf, Coppelius, Dapertutto und Dr. Mirakel mit unglaublicher Flexibilität und tierischer Spielfreude, auch mit größter Intensität zwischen Dämonie und Selbstverleugnung auf die Bühne zu bringen. Dass er darüber hinaus auch ein fantastischer Opernbariton ist, beweist er unter anderem in der berühmten „Spiegelarie“.

Olympia-Arie als Kabinettstückchen

Die Schwedin Kerstin Avemo als Puppe Olympia liefert spielerisch und gesanglich ein Kabinettstückchen der besonderen Art – höchste Koloraturen von solcher Präzision hat man noch nie gehört. Sie ist, zusammen mit ihrer deutschen Kollegin Mandy Fredrich, auch Antonia und Giulietta. Die israelische Mezzosopranistin Rachel Frenkel verkörpert mit großem Einsatz den Gefährten Nicklausse. Als Spalanzani in Einstein-Verkleidung gibt Bengt-Ola Morgny eine köstliche Figur ab, ebenso wie der umwerfende Christophe Mortagne als Diener in der Maske Offenbachs.

Stefan Herheim macht im Schlussapplaus auf offener Bühne einen Luftsprung, Intendantin Elisabeth Sobotka lobt bei der anschließenden Premierenfeier die Art, wie bei ihm aus einem „alten Schinken“ etwas Sensationelles entstanden sei. Die Produktion wird anschließend auch in Köln und Kopenhagen gezeigt.

 


Spieldauer: 3 Stunden 15 Minuten inklusive Pause

Weitere Vorstellungen von „Hoffmanns Erzählungen“ im Festspielhaus:
So, 26. Juli, 11.00 Uhr
Do, 30. Juli, Mo, 3. August, Do, 6. August – jeweils 19.30 Uhr

Verfügbare Karten unter www.bregenzerfestspiele.com oder
Telefon 0 55 74 / 407-6

ACHTUNG – geänderter Termin der TV-Wiedergabe:
Durch die technische Bühnenpanne bei der Premiere von „Hoffmanns Erzählungen“ ist eine umfangreiche Nachbearbeitung der TV-Aufzeichnung notwendig. Dadurch wird der für So, 26. Juli, 22.45 Uhr in ORF III geplante Sendetermin auf So, 23. August, 20.15 Uhr, ORF III, verschoben.