Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Fritz Jurmann · 23. Jul 2015 · Musik

Erste Festspiel-Premiere im Wetterglück - Puccinis Oper „Turandot“ überzeugte als gigantisches Bühnenmärchen zwischen Seespiel und „Sehspiel“

So viel Wetterglück muss man haben wie die Festspiele mit ihrer ersten Premiere am See. Trotz der von den Radiostationen den ganzen Tag über gebetsmühlenartig heraufbeschworenen „Unwetter“ in den Abendstunden ging Puccinis letzter Opernklassiker „Turandot“ am Mittwoch fast ungehindert, nur mit einer paar Tropfen in der ersten halben Stunde, über die Bregenzer Seebühne. Die Inszenierung des erstmals in Bregenz tätigen Schweizer Regisseurs Marco Arturo Marelli (65) liegt fast mathematisch genau im Fadenkreuz zwischen Seespiel und „Sehspiel“, befriedigt also seriös und in hoher künstlerischer Qualität die Opernfreaks, lässt aber auch die anderen mit viel Lokalkolorit jenen Spaß haben, den sich das breite Publikum heute von solchen Massenevents ganz einfach erwartet.

So wünscht man sich Oper am See. Letztlich ist das ganz großes Kino, ein gigantisches fernöstliches Bühnenmärchen, ein Thriller aus Liebe, Rachsucht und Tod, der beide Publikumsschichten zwei Stunden lang in Atem hält. Der minutenlange begeisterte Applaus des Premierenpublikums galt neben den Protagonisten auch dem auf höchstem Level arbeitenden Leading Team.

Turandot – eine See-Oper

Es war ein zielsicherer Einfall der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka, für ihren Start in Bregenz als Seeproduktion Puccinis „Turandot“ zu wählen, auch wenn sich der Kaufmännische Direktor Michael Diem dagegen wehrte. Zu sehr war für ihn dieses Sujet durch eine künstlerisch und kommerziell misslungene Aufführung in der Bär-Ära bei den Festspielen 1979 mit einem schlechten Omen belastet. Inzwischen sind über 35 Jahre vergangen, die Festspiele haben nicht nur an Größe, sondern auch an künstlerischer Qualität längst einen Quantensprung hingelegt, und so wurden die Karten auch für „Turandot“ heuer neu gemischt.

Apropos Karten: Schon der Vorverkauf ließ die Verantwortlichen jubeln, stellt doch das „Spiel auf dem See“ als traditionelle Cash Cow finanziell das übrige Programm sicher. Bereits vor der Premiere waren 90 Prozent der aufgelegten rund 180.000 Plätze für 26 Aufführungen verkauft, nach dem bejubelten Auftakt am Mittwoch wird der Rest schon dank Mundpropaganda weggehen wie die berühmten „warmen Semmeln“. Und das für eine Oper, die nur eine einzige Arie besitzt, die der „Mann auf der Straße“ auf Anhieb mitpfeifen kann. Dafür muss er allerdings zunächst zwei längere Akte überstehen. Denn der Gänsehaut-Knüller „Nessun dorma“, durch Luciano Pavarottis unvergleichliche Version 1980 erstmals in die Hitparaden katapultiert, kommt erst im dritten Akt.

Anschaulich erzählt

„Ich bin dem Stück verpflichtet“, hatte Regisseur Marelli noch in der aktuellen Ausgabe der Print-KULTUR zu Protokoll gegeben. Und er erzählt diese Geschichte auch sehr anschaulich. Was ihn natürlich nicht daran hindert, dieser weltweit beliebten Musiktheaterversion eines persischen Märchens für Bregenz einen ganz persönlichen Stempel aufzudrücken und seine künstlerische Freiheit zu nutzen: indem er schon auch ein bisschen Spektakel macht und Feuerkünstler, Artisten, Ribbon Dancer, Jongleure oder farbige Drachen aufmarschieren lässt.

Das ist durchaus legitim, hier auch logischer, weit weniger aufgesetzt und nicht so grell überzogen wie in Pountneys viel gelobter „Zauberflöte“. Der Mann versteht sein Handwerk und hat dabei noch ein untrügliches Gespür für Situationen, Effekte, Wirkungen, ohne diese zu überziehen. So fallen ihm immer wieder Bilder ein von starker Poesie wie die Szene mit den weißen Luftballons am Beginn, aber auch durch ihre Kraft und Monumentalität beeindruckende Tableaus wie das Finale, die durch Puccinis geniale musikalische Dramaturgie noch unterstrichen werden. Absolut stimmig und erfreulich unkonventionell die Kostüme von Constance Hoffmann und die traumhaften Stimmungen, die der bewährte David Cunningham mit seiner Lichtregie ins weite Rund zaubert.

Galeli wird geköpft

Die Geschichte der grausamen Prinzessin Turandot, die es „den Männern“ generell heimzahlen will, was sie durch eine Vergewaltigung einer Urahnin angetan haben, hat es in sich. Jeder der Freier, der ihre drei Rätsel nicht zu lösen vermag, wird geköpft. Und hier, dem Aufführungsort geschuldet, natürlich wenig umweltbewusst im See entsorgt. Solches widerfährt dem als Exempel in einer stummen Rolle vorgeführten Prinzen von Persien, dem einstigen smarten „Mister Vorarlberg“, Mike Galeli. Nur Calaf wird der Machtgier der Prinzessin gefährlich. Er weiß die Lösung und will von Turandot, dass sie seinen Namen errät.

An diesem dramaturgischen Höhepunkt, der in der Arie „Nessun dorma“ („Keiner schlafe“) gipfelt, greift nun Marelli entscheidend ein. Der übliche kurze Alfano-Schluss der Oper – Turandot und Calaf küssen sich, und die Oper ist aus – ist ihm für diesen Ort zu kurz und zu banal. Er verlängert das Geschehen musikalisch mit einem zunächst verworfenen Finale von Alfano und lässt Turandot die Initiative ergreifen, um ihrerseits Calaf zu erobern, der zu diesem Zeitpunkt auf einem Nebengeleise als Komponist Puccini um den Schluss seiner Partitur ringt. In dieser Ausführung wird das vermutlich nicht jedem Zuseher plausibel. Aber es ist, mit einem massentauglichen Happyend samt Hollywood-Hochzeit im langen weißen Kleid, ein psychologisch geschickter, dem Publikumsgeschmack gehorchender Schachzug. Nur einmal ist der Gaul mit Marelli durchgegangen: Dass sich die beiden zum Fest aufgebotenen grellfarbenen Leuchtdrachen bei dieser Gelegenheit auch noch küssen müssen, ist dann doch etwas dick aufgetragener Kitsch.

Regisseur mit eigenem Bühnenbild

Franco Arturo Marelli ist, eine Premiere für den See, auch sein eigener Bühnenbildner und hat mit der 72 Meter breiten und 27 Meter hohen chinesischen Mauer um rund 7 Mill. Euro eine bildgewaltige Breitwand-Bühnenskulptur in den Raum gestellt, die gleich bei den ersten Tönen im Mittelteil effektvoll in sich zusammenfällt. Dieses Symbol für Macht und Unterdrückung muss zwei Sommer lang halten und ist bereits zum viel bestaunten aktuellen Wahrzeichen dieser Festspiele geworden. Mit etwas Fantasie und im entsprechenden grünen Bühnenlicht ist diese Skulptur auch „Nessi“ nicht unähnlich, dem sommers mit schöner Regelmäßigkeit auftauchenden Ungeheuer aus dem schottischen Loch Ness.

Daneben birgt dieses Monument mit einer kreisrunden drehbaren Spielfläche im Zentrum auch Möglichkeiten für intimere Szenen. Der Deckel hebt sich oft nur leicht an und gibt so drehbare kleinere Räume frei mit Messerschleif-Maschinen für die Enthauptungen oder eine Bibliothek der drei Minister. Wenn sich der Deckel ganz hebt, wird er zur Projektionsfläche für LED-Zuspielungen der drei Rätselfragen, aktuelle Leuchtreklamen und symbolhaft chinesische Kultgegenstände. Und da sind da noch die tönernen Terrakotta-Soldaten aus der Tradition des ersten chinesischen Kaisers, in der Luft hinter der Bühne und im  Wasser magisch beleuchtet, aber auch als bedrohlich im Puccini-Takt aufmarschierende lebendige Armee. Psychologisieren will Marelli nach eigener Aussage nicht so sehr, er setzt in diesen Distanzen auf größere Gesten und Aktionen. Entsprechend bleiben manche Figuren in ihrer Profilierung etwas blass, erhalten dafür musikalisch umso größere Kontur.

Puccinis Opern-Highlight

Puccinis hat mit diesem letzten Werk seine höchste Meisterschaft im Opernschaffen erreicht. Mit ihren Reibungen an den Grenzen der Tonalität ist es hörbar ein Kind des 20. Jahrhunderts, dem er sich anpassen wollte. Die mit blühender melodischer Inspiration und viel Gespür für Exotik empfundenen lyrischen und dramatischen Arien, Ensembles und monumentalen Chorszenen sind in solcher Qualität bei ihm einzigartig. Trotzdem ist es natürlich eine durch und durch italienische Oper, und da sind die Wiener Symphoniker in ihrem Element – vielleicht gerade deshalb, weil sie außerhalb von Bregenz fast nie Oper spielen. Sie verfeinern diese Musik in ihrer blutvollen Italianità mit österreichischer Klangtradition, bringen sie elegant und strahlend zum Leuchten.

Der drahtige italienische Stardirigent Paolo Carignani, im Nebenberuf übrigens Triathlet, ist mit straffen Tempi voll Leidenschaft bei der Sache. Er scheut kein noch so großes Forte, um den Eindruck einer Massenszene zu untermauern, findet stets auch die rechte Dosierung, um die so unterschiedlichen musikalischen Stimmungen auszufeilen und die enormen Distanzen zwischen Haus und See über Monitore mit großer Exaktheit zu überbrücken. Der seit Jahren hier tätige klangschöne Prager Philharmonische Chor (Leitung Lukás Vasilek) und der angestammte Bregenzer Festspielchor (Leitung Benjamin Lack), ein Bläserensemble des Landeskonservatoriums sowie der Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt (Leitung Wolfgang Schwendinger) fügen sich mit großem Einsatz ins Geschehen.

Der Sound über die hier entwickelte „BOA“-Anlage („Bregenz Open Acustics“) mit ihrem Richtungshören entspricht in seiner Größe und Weitflächigkeit bester Kino-Breitwandtradition und der Opulenz des Bühnenbildes. Dies wurde heuer durch die unsichtbare Unterbringung von allein 60 Lautsprechern in der Mauer möglich.

Erstklassige Besetzung

Diese Oper verlangt große Stimmen, und das in den Hauptpartien dreifach verfügbare Ensemble ist wirklich erstklassig besetzt und spielfreudig, wenn auch wie gewohnt am See die ganz großen Namen fehlen. Diese sind oft sehr langfristig gebunden und haben zudem angesichts der zu erwartenden Wetterunbill Angst um ihre Stimme. Kein Problem aber offenbar für das Premieren-Team reifer Künstlerpersönlichkeiten mit Mlada Khudoley an der Spitze in ihrer hochdramatischen, eher undankbaren Sopranpartie als unnahbare, stimmlich präsente, teils aber auch schneidend grelle Turandot. Mit ihrer großen Arie im 2. Akt gelingen ihr auch berührende Momente. Riccardo Massi ist mit seinem heldisch gestählten Tenor ein Calaf wie aus dem Bilderbuch, bekommt aber für sein „Nessun dorma“ mit dem brillant geschmetterten hohen H keinen Applaus, weil die Oper durchkomponiert ist. Besonders vom Publikum gefeiert wird die durch ihre volle, runde Stimme und sichere Gestaltung auffällige Guanqun Yu, die der in dieser Oper oft gerne übersehenen Figur der Liù starkes Profil gibt.

Die beiden „alten Herren“, der greise Kaiser Altoum und der im Exil lebende alte König Timur, finden in Manuel von Senden und Michael Ryssov einfühlsame Darsteller. Die drei Minister Ping, Pang, Pong mit Andrè Schuen, Taylan Reinhard und Cosmin Ifrim sind in ihren knalligen Gewändern ein wichtiges ausgleichendes, auch parodistisches Element. Ihr „Ministerterzett“ zu Beginn des zweiten Aktes ist jedoch trotz guten Einsatzes von der Vorlage her ein Stimmungstöter, den man gut weglassen könnte, weil er auch für den Fortgang der Handlung wenig bringt. Paul Bélanger in der stummen Rolle des weißen Clowns erweist sich als wendiger, kluger Spielmacher.

 

Spieldauer: ca. zwei Stunden (ohne Pause!)

Weitere Vorstellungen von „Turandot“ bis 23. August, Beginn im Juli 21.15 Uhr, im August 21.00 Uhr – Verfügbare Karten unter www.bregenzerfestspiele.com oder Telefon 0 55 74 / 407-6

TV-Livesendungen der zweiten „Turandot“-Vorstellung am Fr, 24. Juli, 21.15 Uhr:
3SAT: Klassische komplette Opernübertragung
ORF 2: Opernübertragung mit Backstage-Einstiegen vom Geschehen hinter der Bühne

Aufzeichnung So, 26. Juli, 20.15 Uhr, ORF III