Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Fritz Jurmann · 21. Jul 2016 · Musik

Großartige „Hamlet“-Oper von den Festspielen aus dem Dornröschenschlaf erweckt – Ein Signal ans internationale Opernrepertoire?

Endlich eine Verdi-Oper, die nicht von Verdi ist, auch wenn sie fast so klingt. Es ist die Ausgrabung der 1865 entstandenen und seither praktisch vergessenen Oper „Amleto“ des italienischen Komponisten Franco Faccio nach Shakespeares Tragödie „Hamlet“, die als Eröffnungspremiere punktgenau zum 400. Todesjahr des Dichters am Mittwoch über die Bühne des Festspielhauses ging. Es ist, als hätte dieses Stück nur darauf gewartet, endlich aus seinem über einhundertjährigen Dornröschenschlaf erweckt zu werden – etwas, was Festspielintendantin Elisabeth Sobotka seit den neunziger Jahren vorgeschwebt ist und was sie in dieser Position nun mit einem Bombenerfolg imponierend umsetzen konnte.

Entsprechend begeistert zeigte sich auch das mit viel Prominenz bestückte Premierenpublikum und feierte Ensemble und Leading Team am Schluss mit einer zehnminütigen Applausorgie. Die Bregenzer Festspiele haben es diesmal also wieder mit einer Rarität geschafft, gewaltiges Interesse beim internationalen Opernpublikum zu wecken. Schon jetzt zeigt sich, dass die drei Vorstellungen in Bregenz zu vorsichtig angesetzt waren und nicht ausreichen werden, um alle Kartenwünsche zu befriedigen.

Ein großer Wurf


Das Werk ist das, was man einen großen Wurf nennt. Große italienische Oper in prächtiger Ausstattung nach einer Vorlage, die immerhin zur Weltliteratur gehört, von einer klugen Regie spannend vielschichtig und mit psychologischen Feinheiten so umgesetzt, dass es auch in drei Stunden kaum Leerläufe oder Langeweile gibt. Eine glänzende, rollendeckende Besetzung, wie man sie auch in großen Opernhäusern in solch stimmlicher Ausstattung und kompromisslosen Spielfreude nicht besser antreffen könnte. Ein tolles Orchester, ein umwerfender Chor und ein ebensolcher Dirigent sorgen dafür, dass diese starke, sinnliche Musik beim Zuhörer in Bauch, Herz und Hirn (in dieser Reihenfolge) hängenbleibt. Das einzige, was dieser Oper zu ihrer Vollkommenheit noch fehlt, ist eine wirkliche Liebesgeschichte – aber daran ist Herr Shakespeare schuld. Allzu brüchig und nebulos bleibt die Beziehung, die er für Hamlet und Ofelia ersonnen hat.

Auch das Sujet ist neu: „Hamlet“ als Oper – das hat es bis jetzt noch nicht gegeben, sieht man von einem heute kaum mehr gespielten Werk von Ambroise Thomas ab, das just zur selben Zeit wie Faccios italienischer „Hamlet“ in Frankreich entstand. Es banalisiert allerdings die Vorlage mit süßlichen Melodien und wird deshalb von der Fachwelt auch nicht ernst genommen (zuletzt 2012 im Theater an der Wien). Gerade zum heurigen Gedenken wollten auch zeitgenössische Komponisten auf den fahrenden Zug aufspringen – bis jetzt noch ohne merkbaren Erfolg. In Ermangelung solcher Alternativen steigen die Chancen, dass sich dieser „Hamlet“ an internationalen Häusern durchsetzen könnte. 2010 ist dies David Pountney mit der Wiederentdeckung der Weinberg-Oper „Die Passagierin“ gelungen, die mittlerweile an großen Bühnen Fuß fassen konnte.

Faccio – ein Revoluzzer seiner Zeit


Der heute total vergessene Komponist und Dirigent Franco Faccio wollte als eine Art Revoluzzer seiner Zeit schon mit 25 partout der „bessere Verdi“ sein und den angeblich veralteten Komponisten damit ins Abseits drängen. Das hat er zwar nicht geschafft, aber in seinem „Amleto“ ist er im Fahrwasser Verdis dem großen Vorbild immerhin in Bezug auf Erfindungsgabe, italienischen Melodienreichtum, Kraft und Ausdruck seiner Musik schon sehr nahe gekommen, wenn ihm auch das letzte Quäntchen von Verdis Genialität fehlt.

Er hat sich dafür merkbar vor allem in der Instrumentierung am verehrten Richard Wagner bedient, und das Zwischenspiel im 3. Akt hat in seiner zarten Stimmung mit den hohen Streichern das Vorspiel zum 3. Akt der zwölf Jahre zuvor entstandenen Verdi-Oper „La Traviata“ zum Vorbild. Verzeihliche Sünden eines nach seiner individuellen Tonsprache suchenden 25-Jährigen. Entscheidend für den jetzigen Erfolg war letztlich auch, dass der durch viele Arbeiten für Verdi routinierte Librettist Arrigo Boito dem Komponisten die ideale Vorlage für diesen „Hamlet“ lieferte. Er kürzte das Drama von sechs auf das Opernformat von drei Stunden, ohne dabei wesentliche Handlungs-Fixpunkte, Sanglichkeit oder Operndramaturgie zu opfern.

Fleisch am Knochen


Durch diese Opernfassung erhält „Hamlet“ nun eine völlig neue Form, neue Strukturen, ein neues Gesicht. Die Musik ist damit so etwas wie das Fleisch am Knochen von Shakespeares Schauspiel. Sie unterstreicht durch ihre Suggestivkraft entscheidende Handlungselemente, wirkt bei Bedarf beruhigend oder aufpeitschend, stets aber mit einem gerüttelten Maß an vollblütiger italienischer Leidenschaft. Dazu besitzt das Werk eine Reihe von Melodien, die, im Jugendsprech, durchaus Hitpotenzial haben: Hamlets Monolog etwa, Ofelias Wahnsinnsarie oder der Trauermarsch. Und was da im Moment noch unentdeckt vor sich hinschlummert, könnte sich nach der Bregenzer Premiere verselbständigen. Auch „Nessun dorma“ aus „Turandot“ wurde erst in den achtziger Jahren durch die Drei Tenöre quasi wachgeküsst, die daraus einen grandiosen Schlager für das Weltrepertoire machten.

Shakespeares „Hamlet“ von 1601 ist ein seit Jahrhunderten gültiges Schauspiel, ein Stück Weltliteratur, von dem es bisher zahllose Aufführungen in aller Welt und allein über 50 Verfilmungen gibt. Die Tragödie spielt im zehnten Jahrhundert im Königreich Dänemark. Claudius, der Bruder von König Hamlet, ermordet den Herrscher, reißt die Krone an sich und heiratet Gertrude, die Witwe des Königs. Prinz Hamlet strebt, nachdem ihm der Geist seines Vaters erschienen ist, danach, diesen Mord zu rächen und stürzt damit alle Beteiligten ins Unglück. Dieses Stück über Sinn und Wert des menschlichen Lebens, das letztendlich doch das Schicksal entscheidet, machte „Hamlet“ zeitlos und ihn selbst zu einer der großen Theaterfiguren des Abendlandes.

„Sein oder Schein“


Doch sein berühmtes „Sein oder Nichtsein – das ist hier die Frage“, eines der vielen zu geflügelten Worten gewordenes Zitat aus diesem Stück, wird in der genial durchdachten Regie des überaus fantasiebegabten Franzosen Olivier Tambosi zum „Sein oder Schein“. Die Inszenierung unterstreicht die beängstigende Atmosphäre der Verunsicherung, bei der jeder jeden beobachtet und keiner dem anderen traut. Höhepunkt ist der von Theaterfan Shakespeare ersonnene Kunstgriff des „Theaters im Theater“, der zum Knackpunkt gerät, ab dem sich die Handlung dramatisch verdichtet. Denn dort wird Claudius sein Mord am alten König vorgeführt, was ihn zu Mordplänen gegen Hamlet veranlasst. Der Dänenprinz dagegen, der bei Shakespeare noch als der große Zauderer gilt, wird in der Oper von Boito von Anfang an als zwar trauriger, aber zugleich von seinem Racheplan besessener junger Mann gezeichnet, dessen Scheitern freilich auch hier vorprogrammiert ist.

Diese dicht ineinander verflochtene, spannende Handlung, bei der nach dem etwas abrupten Schluss allein vier Tote auf der Bühne liegen, erstochen oder vergiftet, wird als eine Art Thriller in opulenten Bildern vor dem Zuseher ausgebreitet. Die virtuos eingesetzte Drehbühne des Hauses spielt dabei eine wesentliche Rolle und schafft immer wieder neue Eindrücke: ein fast bühnenhoher Steinquader etwa, der als Symbol der Macht hereinfährt und die gute Gesellschaft zu erdrücken droht, der beklemmende Auftritt von Hamlets Vater als Geist, die in zartgrünes Laub getauchte Ofelia-Szene und ein Begräbnis, das mit vielen Kerzen und Prozession als Zugeständnis ans Publikum knapp am Kitsch vorbeischrammt  (Bühne: Frank Philipp Schlößmann, Lichtdesign: Davy Cunningham). Besonderen Eindruck hinterlassen in der Choreografie von Ran Arthur Braun auch die königlichen Feste mit dem fantastisch sicheren und stimmstarken Prager Philharmonischen Chor und die von Gesine Völlm der Shakespeare-Zeit stilisiert nachempfundenen Kostüme.

Hammerpartie


Der junge tschechische Tenor Pavel Cernoch hat sich drei Jahre lang intensiv auf diesen Hamlet vorbereitet, der fast drei Stunden lang auf der Bühne steht. Eine Idealbesetzung für diese ungemein kräfteraubende Hammerpartie, in der er als wandlungsfähiger Schauspieler und toller Sänger mit vielen Spitzentönen vollkommen aufgeht. Man würde sich nicht wundern, ihn demnächst als Heldentenor in einer großen Wagnerpartie zu erleben. Der Italiener Claudio Sgura gibt einen verschlagenen König und setzt seinen kernigen Bariton dazu kraftvoll ein.

Die beiden Frauenpartien sind stimmlich gut voneinander abgegrenzt: die Deutsche Dshamilja Kaiser als Königin Gertrude trumpft mit ihrem dramatischen Mezzo auf, die zuletzt im langen weißen Kleidchen barfuß auftretende Ofelia der rumänischen Sopranistin Iulia Maria Dan gefällt besonders in ihrer zart mädchenhaften Lyrik, bevor sie geistig umnachtet ins Wasser geht. Einen besonderen Eindruck vermittelt der Italiener Gianluca Buratto in der Rolle als Geist des Vaters. Sein Bass besitzt eine Tiefe, Schwärze und damit Bedrohlichkeit, wie man sie sich für diese Rolle nur wünschen kann. Als Laertes, sportiver Gegenspieler von Hamlet im glaubhaft echt ausgeführten Fechtkampf, erfüllt der Innsbrucker Tenor Paul Schweinester, abends zuvor noch als Bastien am Gondelhafen, auch hier perfekt seinen Part.

Und auch den Erfolg heimischer Mitwirkender gilt es zu vermelden. Der Sopranistin Sabine Winter gelingt in der kleinsten Rolle als Königin Giovanna beim „Spiel im Spiel“ in diesem Kontext großer Stimmen ein darstellerischer und gesanglicher Achtungserfolg. In diese Rubrik fallen auch Mitglieder des Festspielchores, die die Prager verstärken, und ein brillant aufspielendes Blechbläserensemble vom Landeskonservatorium als Bühnenmusik.

Dirigent und Orchester gelingt Vorzügliches


Schließlich zum Wichtigsten, den Trägern des musikalischen Fundaments, denen gemeinsam Vorzügliches gelingt. Der italienische Dirigent Paolo Carignani, der sich heuer einer Doppelbelastung am See und im Haus stellt, ist ein sehr energischer, klarer und gerade in diesem Bereich absolut kompetenter Führer durch die nicht immer einfache Partitur. Sein stimmstarkes Ensemble erlaubt ihm, seinem Temperament freien Lauf und auch das Orchester zwischendurch einmal ordentlich von der Leine zu lassen, ohne dass die Balance oder die vielen schönen Farben darunter leiden würden.

Und die Wiener Symphoniker, die sich mit ihm inzwischen bestens verstehen, laufen unter seinem Dirigat wirklich zu Hochformat auf. Ihr berühmter Klang veredelt auch diese süffigen italienischen Melodien, bei denen sich das Orchester erfahrungsgemäß besonders wohl fühlt, unterstreicht die Festlichkeit der Feste, die Dramatik der Kämpfe und die Trostlosigkeit einer unerfüllten Liebe.

Und was nun weiter, nach dieser Bomben-Entdeckung? Hört, ihr Intendantinnen und Intendanten in den großen Opernhäusern dieser Welt: Es muss in Eurem ewig gleichen Repertoire nicht immer „Otello“ oder „Aida“ sein oder überhaupt Verdi. Da gibt es mit „Hamlet“ von Franco Faccio nun eine Verdi-Oper, die nicht von Verdi ist, auch wenn sie fast so klingt (siehe oben). Anfragen an: Elisabeth Sobotka, p. A. Bregenzer Festspiele.

 

Die Oper „Amleto“ von Franco Faccio wird bei den Bregenzer Festspielen noch am Mo, 25. und Do, 28. Juli im Festspielhaus aufgeführt, Beginn jeweils 19.30 Uhr. Dauer ca. drei Stunden inklusive Pause