Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Fritz Jurmann · 22. Jul 2016 · Musik

Bregenzer Festspiele - „Turandot“ bleibt ein opulentes Fest der Bilder, Farben und Klänge

Zumindest wettermäßig total unspektakulär verlief am Donnerstagabend auf der Seebühne die zweite Premiere der diesjährigen Bregenzer Festspiele mit der Wiederaufnahme der erfolgreichen Produktion von Giacomo Puccinis Oper „Turandot“ vom Vorjahr. So wie bekanntlich angesagte Revolutionen nicht stattfinden, blieben auch die von den Meteorologen prognostizierten Gewitter für diesen Abend zur Gänze aus. Die Besucher wurden an einem windstillen und lauen Sommerabend sogar mit einem traumhaften Sonnenuntergang belohnt. Das Spektakel fand dafür umso mehr auf der Bühne statt, wo der Schweizer Bühnenbildner und Regisseur Marco Arturo Marelli (66) seiner Inszenierung noch in ein paar Details einen Feinschliff verpasst hatte. Knapp 7.000 Besucher auf der ausverkauften Seetribüne zeigten sich begeistert im minutenlangen Schlussapplaus für alle Mitwirkenden und das Leading Team.

Kaum Veränderungen


Marelli hatte sich bei der Pressekonferenz im Vorfeld noch recht kryptisch bei der Beantwortung der Kernfrage jedes zweiten Seebühnen-Jahres gegeben, was er denn an seiner künstlerisch wie kommerziell durchaus erfolgreichen „Turandot“ vom Vorjahr heuer verändert habe. Man sehe das Stück im zweiten Jahr ganz ohne Stress aus einer anderen Perspektive, meinte er, könne somit noch einiges nachschärfen und Kleinigkeiten verbessern – basta! Später hat er sich freilich doch daran erinnert, dass er im Zuge seiner „Turandot“ an der Wiener Staatsoper, wo er sein Konzept nach Stockholm, Graz und Bregenz zum vierten Mal an den Mann brachte, dort vor allem an Turandots relativ langatmiger Erzählung von ihrer Urahnin Lou-Ling gefeilt hat, deren Tod sie zum männermordenden Ungeheuer machte. Deren Puppe liegt nun statt zu stehen, ihr maskenhaftes Gesicht erscheint auf der LED-Wand, auch die Personenführung ist etwas bewegter.

Persönlich habe ich bei dieser für mich dritten Bregenzer „Turandot“ nach Generalprobe und Premiere vom Vorjahr jedoch den Eindruck, dass diesmal alles doch etwas konzentrierter und stringenter abläuft, auch um etwa zehn Minuten kürzer, und damit eine stärkere Wirkung auf den Besucher ausgeübt wird. Man geht am Schluss irgendwie bereichert und erfüllt von diesem Fest der schönen Bilder, Farben und Klänge nach Hause, die als großes „Kino im Kopf“ noch lange nachwirken. Diesen Eindruck haben mir nach der Vorstellung auch mehrere Bekannte und Freunde bestätigt, ohne genau zu wissen warum.

Quadratur des Kreises


Das einzige Manko, das man im Vorjahr von verschiedenen Seiten hörte, dass Marelli seine riesige drachenförmige Bühne mit der gewaltig himmelwärts geschwungenen chinesischen Mauer insgesamt zu wenig ausnutzt, ist nach wie vor der Fall, fällt aber nicht mehr so ins Gewicht. Vermutlich hat man sich einfach daran gewöhnt. Dafür bewundert man heuer erneut sein Feingefühl, mit dem er es in einer Art Quadratur des Kreises verstanden hat, den Erwartungen der beiden großen Publikumsschichten zu entsprechen. Diese „Turandot“ befriedigt seriös und in hoher künstlerischer Qualität die Opernfreaks, das breite Publikum hingegen, das die Opern meist nur vom Hörensagen kennt, hat dafür seinen Spaß an viel Lokalkolorit mit Aufmärschen von Schwertkämpfern, Feuerkünstlern, Jongleuren und farbigen Leuchtdrachen, die sich allerdings heuer im Schlussbild nicht mehr küssen (müssen).

Zu den Feinheiten seines Konzeptes gehört es auch, dass Marelli das Schicksal des Prinzen Calaf, der um seine abweisende Prinzessin Turandot kämpft, mit jenem des Komponisten Giacomo Puccini verknüpft, der todkrank um einen logischen Schluss für seine Oper ringt. Dies geschieht auf einer kleinen, der Hauptbühne vorgelagerten „Wohnzimmer-Plattform“. Wie die Geschichte ausgeht, weiß man: Puccinis Oper blieb unvollendet, Calaf erringt schließlich doch die Liebe der Prinzessin.

Marelli erschien jedoch die abrupte Wandlung Turandots nach dem Kuss mit Calaf in eine liebende Frau, wie sie dem heute üblichen Alfano-Schluss zugrunde liegt, viel zu abrupt und unlogisch. Er hat das Geschehen musikalisch mit einer zunächst verworfenen ersten Alfano-Fassung verlängert, in der Turandot nun ihrerseits um Calaf wirbt. Das ist natürlich, mit einem massentauglichen Happyend samt Hollywood-Hochzeit im langen weißen Kleid ein dem Publikumsgeschmack geschuldeter Schachzug, der auch heuer glänzend funktioniert. Ein opulenteres Finale samt der „Nessun dorma“-Melodie in vervielfachter Chor- und Orchesterbesetzung hat man hier wohl kaum einmal erlebt.

Variable Bühne


Auf der eigenen Bühne hat Marelli eine ganze Menge von Möglichkeiten zur Umsetzung seiner Einfälle. Die kreisrunde drehbare Spielfläche im Zentrum macht auch intimere Szenen glaubhaft. Der Deckel hebt sich oft nur leicht an und gibt so drehbare kleine Räume frei mit Messerschleif-Maschinen. Wenn sich der Deckel ganz hebt, wird er zur Projektionsfläche für LED-Zuspielungen der drei Rätselfragen, symbolhaft chinesischer Kultgegenstände oder maskenhaft sich verändernder oder zerfallender Gesichter – das eben, was man heute große Videokunst nennt (Aron Kitzig).

Die prächtigen Kostüme (Constance Hoffmann) und das genial vielfältige und stimmige Lichtkonzept (Davy Cunningham) sind auch diesmal ganz wesentliche Bestandteile einer großartigen Showmaschinerie, die mit der Präzision eines gut geölten Schweizer Uhrwerks abläuft. Ebenso wie die tönernen Terrakotta-Soldaten, deren See-Brigade nach dem Hochwasser der letzten Wochen nur teilweise wieder aufgetaucht ist und die in lebendig im Puccini-Takt aufmarschierenden Figuren auf der Bühne ihre Entsprechung finden.

Musik des 20. Jahrhunderts


Musikalisch spürt man hier zwei intensive Stunden lang, wie sehr Puccini in diesem letzten Werk seine höchste Meisterschaft im Opernschaffen erreicht hat. Die mit blühender melodischer Inspiration und viel Gespür für sinnliche Exotik ausgestatteten lyrischen und dramatischen Arien, Ensembles und monumentalen Chorszenen in archaisch brutaler Kraft oder schwereloser Transparenz sind mit ihren tonalen Reibungen  hörbar Musik des 20. Jahrhunderts. Die Umsetzung steht auf einem extrem hohen musikalischen und technischen Level: durch die gewohnt glänzend und elegant aufspielenden Wiener Symphoniker (die über die LED-Scheibe erfreulicherweise erstmals im Schlussapplaus auch auf die Bühne übertragen werden), und die perfekt ausgesteuerte „BOA“-Anlage (Bregenz Open Acustics), die diese Klänge in bester Breitwandtradition mit Dolby Sorround auch für Feinspitze zum absoluten Hörvergnügen macht.

Der drahtige italienische Stardirigent Paolo Carignani ist mit straffen Tempi voll Leidenschaft bei der Sache. Er scheut kein noch so großes Forte, um den Eindruck einer Massenszene zu untermauern, findet stets auch die rechte Dosierung, um die so unterschiedlichen musikalischen Stimmungen auszufeilen und die enormen Distanzen zwischen Haus und See über Monitore mit großer Exaktheit zu überbrücken. Der seit Jahren hier tätige klangschöne Prager Philharmonische Chor (Leitung Lukás Vasilek) und der angestammte Bregenzer Festspielchor (Leitung Benjamin Lack), ein Bläserensemble des Landeskonservatoriums sowie der Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt (Leitung Wolfgang Schwendinger) fügen sich mit großem Einsatz ins Geschehen. Nicht mehr mit von der Partie ist diesmal unser Ex-„Mister Vorarlberg“ Mike Galeli. 28 Mal hat er sich im vergangenen Jahr als persischer Prinz coram publico köpfen und danach (ebenso getürkt) kopflos ins Wasser schmeißen lassen – das ist wohl genug …

Erstklassige Besetzung


Diese Oper verlangt große Stimmen, und das in den Hauptpartien dreifach verfügbare Ensemble ist erneut erstklassig. Dass mit Ausnahme des Calaf heuer alle Hauptpartien der Premiere mit den Sängern vom Vorjahr besetzt wurden, spricht für Kontinuität und die gute Stimmung im Team. In der gefürchteten, eher undankbaren „Mörderpartie“ der Titelrolle überzeugt auch diesmal Mlada Khudoley in hochdramatischer Intensität. Mit ihrer großen Arie im 2. Akt gelingen ihr aber auch sehr berührende Momente. Neu als Premierenbesetzung ist Rafael Rojas, ein Calaf wie aus dem Bilderbuch, der mit seinem heldisch gestählten, metallischen Tenor strahlend das hohe H in seiner Paradearie „Nessun dorma“ erklimmt und auch als „Puccini“ glaubhaft wirkt. Besonders vom Publikum gefeiert wird wie im Vorjahr die durch ihre volle, runde Stimme und sichere Gestaltung auffällige Guanqun Yu, die der in dieser Oper oft übersehenen Figur der Liù starkes Profil gibt.

Die beiden „alten Herren“, der greise Kaiser Altoum und der im Exil lebende alte König Timur, finden in Manuel von Senden und Mika Kares einfühlsame Darsteller. Die drei Minister Ping, Pang, Pong in ihren knalligen Gewändern sind mit Mattia Olivieri, Peter Marsh und Martin Fournier neu besetzt und bringen, wie bei einem guten Hitchcock-Krimi, in Commedia dell’Arte-Manier entlastende Elemente des Humors immer dort ein, wo die Spannung kaum mehr erträglich wird. Paul Bélanger in der stummen Rolle des weißen Clowns erweist sich als wendiger, kluger Spielmacher.

 

„Turandot“ wird auf der Bregenzer Seebühne heuer insgesamt 24 Mal aufgeführt. Beginn im Juli 21.15 Uhr, ab August 21.00 Uhr. Spieldauer ca. zwei Stunden ohne Pause. Details unter www.bregenzerfestspiele.com