Ethan Coen hat seinen ersten Spielfilm als Soloregisseur gedreht: „Drive-Away Dolls“. (Foto: Focus Features)
Fritz Jurmann · 22. Jul 2021 · Musik

Festspiel-Hausoper „Nero“: Grell-buntes Opernspektakel ohne Ende

Das gab es noch nie in der Operngeschichte: Dass ein Komponist seit 1862 geschlagene 56 Jahre an seiner Oper arbeitet und diese dann immer noch unvollendet hinterlässt, mit vier statt der vorgesehenen fünf Akte. Weil er vermutlich an einem entscheidenden Punkt nicht mehr weiterwusste. Da ist es dem Italiener Arrigo Boito (1842-1918) mit seiner Oper um den römischen Kaiser Nero nicht anders ergangen als vielen Besuchern bei der Premiere seines Werkes, das am Mittwoch als Wiederentdeckung zur Eröffnung der diesjährigen Bregenzer Festspiele auf die Bühne des Festspielhauses gehievt wurde. Vieles wäre im Finale noch zu erklären und zu lösen gewesen, doch das Ende blieb auch für ein freundlich aufnahmebereites Publikum offen. Dafür entschädigten die ausgezeichnete Besetzung und eine fantasievolle Inszenierung, die freilich auch ihre Buhrufe abbekam.

Vergessenes Mammutwerk

Der Komponist Arrigo Boito hat sein Mammutwerk selber nicht mehr erlebt, er verstarb sechs Jahre vor der posthumen Uraufführung der ergänzten Fassung seines „Nero“ 1924, die durch Länge und Personalaufwand viele der üblichen Grenzen sprengt. Gründe genug, dass sich seither kaum mehr ein großes Opernhaus an dieses Werk wagte. Dass Intendantin Elisabeth Sobotka dennoch Mut und Risikofreude aufbrachte, dieses sperrige Werk zu stemmen und international zur Diskussion zu stellen, verlangt Respekt, nicht zuletzt auch vor der Toleranz der zu diesem Anlass international angereisten Opernfreaks.
Als Kaiser des Römischen Reiches ist Nero (37-68) eine historisch verbürgte Figur, die in den Geschichtsbüchern vor allem durch ihren schwankenden Charakter, ihre Zerrissenheit und daraus resultierend ihre sadistischen Untaten einen prominenten Platz einnimmt. Boito wollte als fantasiebegabter Komponist und Librettist mit seiner Oper jedoch kein Lebensbild Neros entwerfen, sondern ein Psychogramm über den so zwiespältigen und machtbesessenen Herrscher. Allein fehlte dem Librettisten nach Jahrzehnten der Entstehung wohl die dramaturgisch starke Hand, und so weist sein Werk deutliche Schwächen auf. So will diese Oper etwa keinen rechten Handlungsablauf ergeben, es bleibt bei einer unverbindlich collagehaften Verknüpfung einzelner Episoden.

Zwischen Wagner und Verdi

Die relativ angenehm zu hörende Musik, die den Zuhörern gefallen hat, entspricht in ihrer Sprunghaftigkeit dem Ablauf. Es ist nicht zu verleugnen, dass Boitos italienisch gesungene Oper mit Arien, Duetten und archaischen Chorszenen dort auch ihre Wurzeln besitzt, vor allem im Verismo, der sich freilich nicht zwischen den Antipoden Wagner und Verdi entscheiden kann. Dafür gibt es eine Prise Impressionismus und sogar Dissonanzen und Chromatik der aufkommenden Neuen Musik als Symbol für das Böse. Ein schwer verdauliches Konglomerat an Einflüssen also, bei dem man einen eigenen Personalstil des Komponisten vergeblich sucht.
Die zentrale Handlung konzentriert sich auf eine besondere von Neros vielen Untaten, den Mord an seiner Mutter, weil sie „zwischen ihm und Rom“ gestanden sei, und dessen psychische Verarbeitung. Dabei flieht er vor sich selbst in künstlerische und spirituelle Welten, in Religionen, in die Liebe, doch niemals kann er dieses Drama ungeschehen machen. Und jeder Akt ist ein neuer, aber vergeblicher Versuch, seine Seele von dieser Schuld reinzuwaschen.

Tambosi – der ideale Regisseur

Die Frage, wem man ein solches Opernmonstrum zur Realisierung anvertrauen könnte, löste sich in Bregenz fast von selbst, nachdem man für solche Spezialaufgaben einen Meisterregisseur wie Olivier Tambosi zur Hand hatte und schätzte. Auch am Ergebnis zeigt sich, dass er wohl die einzige und beste Wahl war, um dieser abstrusen Gedankenwelt, diesen versponnenen Handlungsverläufen eines in sich selbst gefangenen Kaisers einigermaßen bühnentauglich und spannend beizukommen, mit stringenter Konsequenz im Sachlichen, aber auch mit dem ihm eigenen Sinn für Sarkasmus und Absurdes. So ist der Leichnam von Neros Mutter nach dem Mord ständig auf der Bühne präsent, wird begraben und erwacht im dritten Akt urplötzlich in Neros Fantasie tanzend zu scheinbarem Leben.
Tambosi lässt gemeinsam mit der Ausstattung (Frank Philipp Schlössmann, Gesine Völlm) den Mief der Antike zur Zeit Kaiser Neros außen vor, dafür bedient er sich virtuos der Drehbühne des Hauses – „Alles dreht sich, alles bewegt sich“, aus der er mit viel Fantasie und Farbenfreude immer wieder neue Schauplätze und überraschende Auftritte hervorzaubert, als manchmal überladenes, grell-buntes Opernspektakel. Auch seine psychologisch raffinierten Charakterzeichnungen sind Legende, wie etwa dieser Nerino in seiner Zerrissenheit mit sich selbst, seinen Launen und seiner Umwelt umgeht.

Glänzende Besetzung

Der mexikanische Bariton Rafael Rojas gibt dieser Titelfigur als auch komödiantisches ausgewiesenes Bühnentier, lange Zeit in einem giftgrünen Frauenkleid (!), alle Merkmale eines großartigen Sängerdarstellers, der zwischen Faszination und Abschreckung changiert. Er lässt sich von seinen Anhängern immer wieder feiern, bis er im apokalyptischen Schluss allein und fassungslos in den Trümmern der angeblich von ihm selbst abgefackelten Stadt Rom verharrt, zwischen halb- und ganz nackten blutigen Leichen.
Auch die weiteren Partien sind sorgfältig ausgesucht und ergeben sich aus dem zweiten Handlungsfaden eines Glaubenskrieges zwischen dem angestammten Heidentum und dem noch jungen Christentum. Sie werden wie in einem symbolbefrachteten Mysterienspiel jeweils angeführt durch zwei stimmlich kerngesunde Baritone, den Italiener Lucio Gallo als Magier Simon Mago, mit elektronischen Engelsflügeln ausgestattet, und den Kanadier Brett Polegato, der Prophet Fanuèl als Christussymbol mit Dornenkrone und aufgemaltem Kitsch-Herz, der sich in die Obernonne Rubria der Italienerin Alessandra Volpe mit ihrem traumhaften Mezzo verliebt. Die russische Sopranistin Svetlana Aksenova als Asteria tritt beachtliche musikalische Höhenflüge an.

Orchester und Chor als tragende Elemente

Die Wiener Symphoniker freuen sich hörbar, in Bregenz wieder Opernorchester sein und auch einmal ein ihnen unbekanntes Werk spielen zu dürfen. Sie machen in der vom Komponisten geforderten XXL-Besetzung Noten mit Köpfchen – in satter Klangfülle, aber auch fein empfundenen lyrischen Stellen wie dem 3. Akt und bombastischen Steigerungen im grandios packenden Vorspiel zum vierten Akt, in dem Teile von Chor und Orchester mit Kräften des Landeskonservatoriums das Haus in eine Klangwolke aus Blech hüllen. Dirigent Dirk Kaftan hat die Partitur bewundernswert verinnerlicht und setzt immer wieder kräftige Akzente, ein Meister der Präzision, der auch die perfekte Balance mit der Bühne zustande bringt.
Das Orchester steht denn am Schluss auch im Mittelpunkt besonders herzlicher Ovationen, ebenso wie der regelmäßig in Bregenz gastierende exzellente Prager Philharmonische Chor unter Lukas Vasilek. Man erlebt solche Reinheit im Klang, solche vokale Strahlkraft selten auf einer Opernbühne, dazu eine körpernahe Spielfreude, ob als giftgrün gewandete Spaßgesellschaft, in gefrorenen Bildern wie von Bob Wilson oder als frecher Unisex-Nonnenchor.
Dass die Oper „Nero“ von Arrigo Boito so wie etwa Weinbergs „Die Passagierin“ von 2010 und anderes aus dem jährlichen Bregenzer Opernraritäten-Kabinett nach ihrer Wiedererweckung den Weg ins Repertoire internationaler Opernhäuser findet, wird vermutlich ein frommer Wunsch bleiben.                  

„Nero“, Oper von Arrigo Boito
Weitere Vorstellungen im Festspielhaus:
So, 25. Juli, 11.00 Uhr
Mo, 2. August, 19.30 Uhr
Dauer ca. drei Stunden