„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Karlheinz Pichler · 21. Jul 2021 · Ausstellung

Weinbergschnecke "reitet" auf dem Bratschenbogen - Anri Sala im Kunsthaus Bregenz

Für den 1974 in Tirana (Albanien) geborenen Künstler Anri Sala steht stets die Musik am Ausgangspunkt von Projekten, dann folgt die Kunst. Wie stark Sound, Video und Architektur miteinander verschmelzen können, beweist er mit seiner aktuellen Ausstellung im Kunsthaus Bregenz (KUB), die aufgrund der Pandemie vom Sommer 2020 auf dieses Jahr verschoben wurde. In der Inszenierung Salas verwandelt sich der Zumthor-Bau zu einem alle Sinne ansprechenden Resonanzkörper, der für fibrierende Raumerlebnisse mit Tiefgang sorgt.

Als Anri Sala im Rahmen der Biennale Venedig 2009 im deutschen Pavillon, der damals für den französischen Beitrag reserviert war, Maurice Ravels "Konzert für linke Hand" zu einer Videoinstallation verarbeitet hatte, standen die Menschen Schlange. Seither begeistert er die Kunstszene mit seinen raumgreifenden Klanginstallationen. Auch im Kunsthaus Bregenz spielen fast alle Arbeiten des Albaners, der heute in Berlin lebt und arbeitet, mit Musik. Im obersten Stockwerk etwa präsentiert er auf einer extrem breiten Leinwand mit „Time No Longer“ ein Video, in dem ein Plattenspieler zu sehen ist, der rotierend in einem Space Lab seine schwerlosen Runden dreht und dabei Olivier Messiaens "Quartett für das Ende der Zeit" abspielt.

Rotierender Plattenspieler im Space Lab

Der Tonarm des sich drehenden Gerätes dirigiert dabei sein eigenes Spiel, springt von einer Stelle zur anderen, ein geradezu dystopisches Bild. Musik ist bei dem in Paris ausgebildeten Sala nicht zur Unterhaltung, Stimmungserzeugung oder Untermalung da, sie ist vielmehr zentrale Majestät seiner Arbeiten.
Messiaen (1908-1992) hat das Stück „Quartett für das Ende der Zeit“ während des Zweiten Weltkrieges in einem Kriegsgefangenenlager in Deutschland komponiert. Uraufgeführt wurde es im Januar 1941 in einem Lager in der Nähe von Görlitz. Sala greift in seinem Video die einzige Solopassage „Abgrund der Vögel“ heraus, die Messiaen für eine Klarinette geschrieben hat. Der albanische Künstler ergänzt die isoliert spielende Klarinette um ein Saxofon-Solo, mit dem er an den US-amerikanischen Astronauten und Physiker Ronald Erwin (Ron) McNair (1950-1986) erinnert, der als begeisterter Saxofon-Spieler im All ein Konzert geben wollte, aber dieses nicht schaffte, weil seine Raumfähre im Zuge der Challenger-Mission 1986 gleich nach dem Start bei Cape Canaveral (Florida) explodierte. Sala arrangiert mit „Time No Longer“ ein fiktives Treffen zwischen Klarinette und Saxofon und evoziert damit gleichsam eine Metapher für die Ziele, Pläne und Träume des Menschen. Zudem verbindet Messiaen und McNair das Gefühl der Einsamkeit, des Gefangenseins. Messiaen sagte selber über seine Komposition: „Die Vögel (die Klarinette) sind der Gegenpol der Zeit, sie sind unsere Sehnsucht nach Licht...“.

Wie eine zweite Haut

In direkter Korrespondenz zu „Time No Longer“ steht die Mehrkanal- und Sound-Installation „Day Still Night Again“ im darunter liegenden zweiten Stockwerk. Sie fungiert, als ob sie den leeren Sockel für den dritten Stock darstellte. Eine Aufnahme der gesamten Wandfläche im Verhältnis 1:1 wird direkt auf dieselben Wände projiziert. Das „gemappte“ Bild wechselt immer wieder von scharf zu unscharf und umgekehrt und verwandelt sich so in eine zweite Haut des Raums. Die Betonwände scheinen gleichsam zum Leben erweckt zu werden, gekoppelt an die Klänge des Hauses. Konkret wird der Wechsel von Schärfe zu Unschärfe durch eine Musikpartitur gesteuert: Das Spiel der Noten schärft die projizierten Bilder der Wände, während sie in den Momenten der Stille unscharf werden.      

Das kürzeste Roadmovie


In eine geradezu knisternde Spannung versetzt die Langsamkeit, mit der eine Weinbergschnecke einen Bratschenbogen hochkriecht, den Betrachter. In dieser Video-Arbeit, die zu den bekanntesten Salas zählt, bestimmt das Tempo der Schnecke das Spiel des Musikers. Igor Strawinskys "Elegie für Viola solo" wird völlig neu getaktet und gedehnt, bis Komposition und Schnecke ihr Ziel erreicht haben. Laut Anri Sala wollte er ursprünglich das kürzeste Roadmovie aller Zeiten drehen. „Es ist genau 80 Zentimeter lang, aber das Musikerlebnis ist natürlich nicht so kurz.“ (Sala)
Die Kamera folgt jedem Auf- und Abstrich des Bogens, vollzieht gleichsam das Schaukeln der Schnecke nach und zeigt sie immer wieder in Großaufnahme. Die Weinbergschnecke ist der große Star der Ausstellung.

Tapetendruckwalze als Spielautomat

Im Erdgeschoss des KUB sind Grafiken sowie mit Tusche und Rost fabrizierte Zeichnungen zu sehen. Dabei hat Sala Landkarten überarbeitet und geopolitische Gebiete derart verzerrt und verdreht, dass sie in die Umrisse von Fischen und anderen biologischen Gebilden hineinpassen, die Sala auf historischen Radierungen entdeckt hat.
Außerdem ist hier mit "All of a Tremble (Conducted Lines)" auch noch eine musikalische Wand aufgebaut. Eine Tapetendruckwalze, die zu einem Spielautomaten umfunktioniert wurde, macht die Unebenheiten der Betonwand hörbar. Auch hier eine Referenz an das Material des Zumthor-Baus. „'All of a Tremble (Conducted Lines)' untersucht in der Gegenüberstellung zweier gängiger Standards der Moderne die Beziehung zwischen der Formbarkeit von Materie und der Materialität von Ton“, ist einem Beschreibungsblatt des KUB zu entnehmen.

Klangskulptur im Treppenhaus

Dass Anri Sala auch sehr politisch sein kann, beweist er mit der Klangskulptur „H(a)unted in the Doldrums“ (2021), die den Besucher im Treppenhaus überrascht. Es ist im Prinzip die Umkehrung einer Trommel. Üblicherweise bringt ja der Schlagzeuger mit den Schlagstöcken die Membran zum Schwingen. Hier ist es genau umgekehrt, es ist die Membran, die die Stöcke in Bewegung versetzt. Und zwar über Schwingungen, die durch eine Lautsprecherstimme ausgelöst werden und auf die Membran übertragen werden. Die Stimme liest die Namen von 27 Menschen mit Albinismus vor, die 2016 und 2019 in Tansania Opfer von Verstümmelungen geworden sind. Durch die in Bewegung versetzten Schlagstöcke werden die Namen der verstümmelten Opfer mit Pigmentstörungen praktisch akustisch überlagert und damit gleich wieder unterdrückt, während sie noch gelesen werden.
Anri Sala sorgt mit seinen Werken für Raumerlebnisse, die alle Sinne ansprechen. Unter anderem stellt der Künstler mit seinen tiefgehenden Installation auch
die Frage nach der Macht von Klängen, nach ihrer Fähigkeit zur Manipulation und wie sie Erinnerungen und Gefühle triggern. Im Kunsthaus Bregenz fühle er sich intuitiv zu Hause, weil es für ihn hier um Erfahrungen gehe, und nicht um Diskurs, bekennt Sala.

Anri Sala
Bis 10.10.
Mo-So 10-18, Do 10-20
Kunsthaus Bregenz

www.kunsthaus-bregenz.at