Festspiel-Hausoper „Don Quichotte“ – Lehrstück um einen tragischen Antihelden
Es war wohl eine der seltsamsten und außergewöhnlichsten Opern, die da am Donnerstag als Eröffnungspremiere im ausgebuchten Festspielhaus gezeigt wurde. Wenn es denn überhaupt eine Oper war. Das Stück „Don Quichotte“ von Jules Massenet ist vielmehr ein Lehrstück um einen tragischen Antihelden, das in seiner wohl dosierten Entschleunigung den ideale Kontrast bildet zum grell spektakulären Zirkus-Karneval, den man Verdis „Rigoletto“ auf dem See verpasst hat.
Jedenfalls war das auch in ihrem fünften Bregenz-Sommer wieder eine dieser mutigen Entscheidungen von Intendantin Elisabeth Sobotka („Diese Oper muss man machen!“), die genau weiß, was sie ihrem Publikum zumuten darf. Nach einer gewissen Schockstarre nach den ersten Bildern hatten die Zuhörer nach der Pause den Hintersinn der Geschichte kapiert und Feuer gefangen. Der Jubel am Schluss war dann lang und herzlich.
Unsterbliche Figur der Weltliteratur
Miguel de Cervantes‘ in der Weltliteratur unsterblich gewordene Figur des fahrenden Ritters Don Quichotte hat bereits viele Komponisten inspiriert. Bühnenwirksame Adaptionen stammen unter anderem von Giovanni Paisiello (1796) und Niccolò Paganini (1770). Über einhundert Jahre später hat der Franzose Jules Massenet, von dem man die Opern „Manon“ und vor allem „Werther“ nach Goethe kennt, mit seinem „Don Quichotte“ diesem Stoff auf der Opernbühne ein musikalisches Denkmal gesetzt, das freilich langsam abbröckelt. Nur vereinzelt, wie etwa zuletzt in Berlin und nun in Bregenz, findet man heute Aufführungen dieses Werkes.
Die in Monte Carlo uraufgeführte Oper ist Massenets letzter Beitrag zum Musiktheater und in mehrfacher Hinsicht ein Werk über das Altern und den Tod. Der 68-jährige Komponist war selbst von Krankheit gezeichnet und brachte im Bett liegend die Noten aufs Papier. Nicht nur mit dem an gebrochenem Herzen sterbenden Don Quichotte fragt Massenet am Ende des Lebens, wie es gelingen kann, die Träume vom eigenen Glück Realität werden zu lassen.
Kampf gegen Windmühlen
Doch zuvor ist in der Welt des Titelhelden alles möglich. Da werden Windmühlenflügel zu Riesen, die bekämpft werden müssen, er nimmt es auch mit einer Horde Banditen auf und die schöne Dulcinea erwidert seine Liebe. Doch der „Ritter von der traurigen Gestalt“ muss bald erkennen, dass seine Träume in der Realität der anderen keinen Platz finden. Massenet ließ sich freilich nicht unmittelbar von Cervantes, sondern von einer damals besonders erfolgreichen Dramatisierung des Stoffes durch Jacques Le Lorrain anregen.
Dennoch: Auch bei näherer Betrachtung will dieses Werk über die gespaltene Persönlichkeit des Don Quichotte so gar nicht in eine der gängigen Schubladen passen. Das Werk besitzt ja nicht einmal eine durchgängige Handlung, sondern besteht aus fünf ziemlich konträren Episoden, die sich in der Fantasie der in Bregenz debütierenden Regisseurin Mariam Clément gemeinsam mit Bühnenbildnerin Julia Hansen als Mythos um gelebte Männlichkeit und Heldentum im Spiegel der Jahrhunderte drehen. Das beginnt mit einem Ständchen in einer pseudo-historischen „Romeo-und-Julia-Balkon-Szene“, es folgen die Begegnung mit den Windmühlen, die sich hier als einfacher Ventilator in einem Badezimmer entpuppen, der Kampf mit einer Banditengang vor einer mit Graffitis verzierten Wand um Dulcinées geraubtes Kollier und letztlich die sterile Welt eines modernen Geschäftsbetriebes.
Zum Scheitern verurteilt
Don Quichotte ist dabei mit seinem getreuen Diener Sancho Pansa quasi der rote Faden, der das alles doch noch irgendwie zusammenhält – jedes Mal neu gewandet: zunächst im Original mit Blechhut, Speer, langem Spitzbart auf seinem Pferd Rosinante unter dem Jubel des Volkes einreitend, dann im Bademantel, als Spiderman und schließlich im bequemen Büro-Outfit. Und fast immer ist sein Tun zum Scheitern verurteilt: Der Wasserhahn lässt sich nicht abstellen, als weltfremder Sonderling muss er auch im modernen Bürokomplex scheitern.
Allein die Rückgabe des geraubten Schmuckes durch die Banditen gelingt, weil sie ihn plötzlich als Heiligen verehren. Dulcinée will ihn trotzdem nicht heiraten und lacht ihn aus, also eine weitere Niederlage. Die Komik, die sich dabei in der Badezimmerszene mit viel Rasierschaum entwickeln sollte, ist wörtlich schaumgebremst. Denn das Lachen bleibt einem im Hals stecken, weil das Mitleid mit diesem Tollpatsch überwiegt, der so gar nicht mit den Tücken des Alltags und den Anforderungen des Lebens zurechtkommen will.
Die Musik ist der Hit
Was dieses Werk aber wirklich zum lohnenden Festspiel-Fundstück macht, ist vor allem und gerade die Musik Massenets. Wenn man bedenkt, dass etwa zeitgleich mit „Don Quichotte“ von 1910 mit der Oper „Elektra“ von Richard Strauss auch ein ganz anderes Kaliber an musikalischem Fortschritt auf den Markt kam, wirkt Massenets „Comédie heroique“ in ihrer spätromantischen Melodienseligkeit wirklich altbacken und etwas aus der Zeit gefallen. Angeblich soll der russische Bassist Fjodor Schaljapin, dem die Oper gewidmet wurde und der später auch die Titelpartie sang, in Tränen ausgebrochen sein, als Massenet ihm Ausschnitte auf dem Klavier vortrug. Vielleicht hat sich seit dieser Anekdote bis heute auch hartnäckig das unberechtigte Prädikat erhalten, Massenets Vertonung des Stoffes sei „Frauenmusik“, also populistisch sich bei den Damen anbiedernd.
Andererseits: Der Komponist hat mit seiner feinfühlig-psychologisierenden Schreibweise und viel musikalischem Charme die abstrus-tragische Gestalt des fantasierenden Ritters ebenso pointiert und eindringlich zu fassen gewusst wie den einfältigen Realismus des Sancho Pansa. Diese Gegensätze zwischen Herr und Diener werden vier Bilder lang strapaziert, bis in einer der berührendsten Sterbeszenen der gesamten Opernliteratur im fünften Bild in einer „Theater-im-Theater“-Situation der Knappe die wahre Größe seines von allen verspotteten Herrn erkennt. Während dieser auf dem Sterbebett liegt, verlässt Dulcinée die Bühne durch den Saal, singt im Foyer noch die letzten Abschiedstöne. Auch mit dieser schillernden Figur erzählt Massenet, wie sich hinter einer Fassade vermeintlich purer Lebenslust die Angst vor der Vergänglichkeit verbirgt.
Massenets rückwärtsgewandte Denk- und Schreibweise zeigt sich aber auch in Don Quichottes von der Mandoline begleitetem Ständchen, das in Anlehnung an Wagner in mehreren Varianten die Oper wie eine Leitmelodie durchzieht und in die Handlung eingreift. Und dann findet sich im zweiten Bild auch eine im Ton der Opera buffa des 18. Jahrhunderts gehaltene Da-Capo-Arie Sancho Pansas über die Heimtücke der Frauen – die erstaunliche Parallele zu Verdis über ein halbes Jahrhundert zuvor entstandener Canzone „La donna è mobile“ in seinem „Rigoletto“.
Blendende Besetzung
Bleibt festzuhalten, dass dank einer blendenden Besetzung diese Vorgaben im Bühnengeschehen wie in der Musik in höchst kompetenter Weise umgesetzt werden. Die Titelrolle dieses tragischen, verzweifelten Helden ist nicht nur körperlich die Traumpartie für den 1,92 m großen, hageren ungarischen Bassbariton Gábor Bretz, der ein halbes Jahr diese Partie in Französisch einstudiert hat und nun Don Quichotte nicht nur spielt, sondern einfach ist. Seine wunderschön geführte warme Stimme, auch seine Würde machen ihn in dieser Rolle unvergesslich. Ihm zur Seite wird der britische Bariton David Stout als komödiantisch auftrumpfender Sancho Pansa zum eigentlichen Publikumsliebling des Abends. Die russische Mezzosopranistin Anna Goryachova als Dulcinée, die im Gegensatz zum Roman hier „in echt“ auf der Bühne erscheinen darf, beeindruckt nicht nur durch ihre wahrhaftige frauliche Schönheit, sondern auch durch ihre gurrend sinnliche Stimme, ihre Unnahbarkeit.
Die Sängerinnen und Sänger des Prager Philharmonischen Chores in der Einstudierung von Lukáš Vasilek verkörpern historisches Volk und elegant versnobtes Management in glänzender musikalischer Strahlkraft. Für die Wiener Symphoniker dürfte Massenets Musik, auch wenn sie unbekannt ist, eher ein Spaziergang sein. Dennoch ist ihr Einsatz, ihr Fingerspitzengefühl bemerkenswert, wenn es um diffizile Klangmischungen geht, spannende Entwicklungen oder kräftige Tuttischläge, die der Oper Kontur und Farben verleihen. Angeleitet werden sie auf souveräne Weise durch den jungen Israeli Daniel Cohen, der anstelle des zunächst vorgesehenen Dirigenten damit zu seinem gefeierten Festspieldebüt gekommen ist.
Regisseurin Mariame Clément wollte mit ihrer Inszenierung dezidiert einen „Weg zur neuen Männlichkeit“ aufzeigen, wie im Abendprogramm nachzulesen ist. Und greift dabei schon zur Einstimmung zu so unkonventionellen Mitteln wie die Video-Einspielung einer Gillette-Werbung für die perfekte Rasur und, nicht mehr neu, einen im Programm ungenannten „Besucher“, der als Publikumsbeschimpfer in der Art des deutschen Kabarettistin Jan Böhmermann auftritt und sich beklagt, dass es keine „richtigen“ Männer mehr gäbe … Lustig ist anders.
Spieldauer: ca. drei Stunden inklusive Pause
Weitere Vorstellungen im Festspielhaus: So, 21. Juli, 11.00 Uhr; Mo, 29. Juli, 19.30 Uhr