Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Fritz Jurmann · 18. Jul 2019 · Musik

Bregenz ist Zirkus! Bei Verdis spektakulärem „Rigoletto“ am See steht Amüsement vor Anspruch

Alles dreht sich, alles bewegt sich heuer auf der Bregenzer Seebühne wie nie zuvor. Die erste Produktion von Verdis internationalem Opern-Dauerbrenner „Rigoletto“ in 74 Festspieljahren hatte am Mittwoch bei guten Wetterbedingungen Premiere, ausverkauft wie praktisch alle 27 Aufführungen, mit viel Szenenapplaus und einem fast zehnminütigen Schlussjubel vor zahlreichen Ehrengästen gefeiert. Der Abend entpuppte sich unzweifelhaft als die bisher spektakulärste Seebühnen-Inszenierung aller Zeiten.

Damit hat man auch für die deutliche Statik der ersten beiden Bühnenbilder in der Ära von Elisabeth Sobotka mit der starren chinesischen Mauer in „Turandot“ und den über elektronische Effekte nur scheinbar bewegten Spielkarten in „Carmen“ die lange überfällige Antwort gefunden: Bregenz ist Zirkus! So sehr, dass die in den Jahren zuvor stets gerühmte Balance zwischen Amüsement und Anspruch diesmal in eine deutliche Schieflage gerät. Das Spektakel der vielen bunten Showelemente für den vermutlichen Großteil der Besucher, die noch nie ein Opernhaus von innen gesehen haben, dominiert insgesamt über Verdis hochkarätige Oper, die auch die Freunde dieses Genres befriedigt.

Stölzl lehrt die Leute das Staunen

Kein Wunder, wenn man einen Mann wie den Münchner Philipp Stölzl als Regisseur und Bühnenbildner engagiert, der neben Opern auch opulente Filme inszeniert hat und weiß, wie man gerade open air ein in die Hunderttausende gehendes Publikum das Staunen lehrt. Dass er sich dabei in die Möglichkeiten verliebt hat, die ihm die unglaubliche Präzisionsmaschinerie der Seebühne bietet und bei der technischen Umsetzung seiner unerschöpflichen Fantasie selber drei Jahre lang mitgetüftelt hat, muss natürlich zulasten der Oper gehen. Giuseppe Verdi kämpft vor allem am Anfang, wenn man zunächst nicht weiß, wo man denn vor lauter Bewegungen überhaupt hinschauen soll, ums nackte Überleben seiner Musik. Das relativiert sich mit der Zeit, weil man in den Rhythmus der technischen Bewegungsabläufe auf der Bühne eintaucht und damit jene Zeit findet, die einem auch die Konzentration auf die Musik ermöglicht.
Mit dieser Oper hat Verdi ja 1851 endgültig den Weg zum Musikdramatiker gefunden und einen bis heute gültigen Welterfolg gelandet. Nach dem Libretto auf der Grundlage von Victor Hugos Roman „Le roi s’amuse“ entwickelte er eine kühne Orchestermusik, die jeder Szene so penibel wie eine heutige Filmmusik angepasst ist und bis heute viele Melodien mit Hitcharakter und Wiedererkennungseffekt aufweist. Dabei gibt es bei Verdi sehr genau gezeichnete Charaktere, die Stölzl mit kundiger Hand, aber ohne allzu viel psychologische Feinzeichnung in seine oft auch groteske Personenregie umsetzt. In den wie mit einem Brennglas fokussierten Arien und Duetten macht er auch die Tatsache vergessen, dass die Oper eigentlich über keine großen Massenszenen verfügt, wie sie eigentlich für den See unabdingbar wären.  
Am Anfang wähnt man sich noch versetzt in die Märchenwelt von „Gullivers Reisen“, wenn die winzigen bunten Zirkuszwerge (Kostüme: Kathi Maurer) in einer Blaskapelle, die das Landeskonservatorium stellt, Purzelbäume schlagend um den Riesenkopf marschieren und ihre Späße treiben. Der Größenunterschied ist eklatant, auch daran muss man sich erst gewöhnen. Vor allem, wenn der Kopf langsam, aber stetig und immer neu sein unsichtbares, aber merkbares hydraulisches Innenleben spielen lässt, sich auf und ab bewegt, die Augen jeweils zum Geschehen richtet und den Mund oft bedrohlich öffnet, wie ein Monster. Ein Mund, der schon bei der ersten Arie des Herzogs, „Questa o quella“, und auch später noch zur Liebeslaube für seine amourösen Abenteuer wird. In der Dämmerung sieht man noch, wie das in alle erdenklichen Lichtstimmungen getauchte Ungetüm von hinten durch einen monströsen Bagger gesteuert wird. Bei Dunkelheit ist die Illusion perfekt, dass der Kopf völlig frei am Nachthimmel schwebt.

Gewagte Kletterkünste 

Charmanter, als es zu Beginn der österreichische Tenor Paul Schweinester als Clown im Rolando-Villazón-Sprech auf der Plattform dieses Kopfes tut, hat man noch nie auf das Handy- und Fotografier-Verbot hingewiesen. Der Kopf wird aber sogleich auch zum Schauplatz für waghalsige Kletterkünste von Stuntmen, die sich abseilen. Aber auch den Protagonisten, vor allem Gilda, wird einiges an Laufbereitschaft und Wagemut bei gefährlichen Einsätzen abverlangt. Auch die aus dem Wasser ragende, riesige Hand mit ihren einzeln beweglichen fünf Fingern, darunter auch der „Stinkefinger“, wird bei solchen Aktionen oft zu einer Art Unterschlupf oder Gefängnis. Das geschieht mit so viel artistischem Geschick, dass man glauben könnte, die viel bewunderte Gymnaestrada sei um ein paar Festspielwochen am See verlängert worden.
Schließlich macht auch Stölzls Idee für diesen Plot durchaus Sinn, über Jahrhunderte hinweg eine thematische Brücke vom Hofnarren Rigoletto in der Renaissance zum Zirkusclown, dem Hofnarren unserer Zeit, und seiner fantastischen Zirkuswelt zu spannen. Und so wird dieser eigentlich bösartige Clown in seiner Befindlichkeit, seinen Intrigen, aber auch seiner Vaterliebe zu Tochter Gilda laufend gespiegelt im riesigen Clownskopf. Bis zum bitteren Ende, wo diesem die Augen als aufgeblasene Gummibälle horrormäßig im Wasser davonschwimmen, ihm die Nase abgeschnitten wird und er sich damit selbst zerstört. Ebenso wie die Figur des Rigoletto, bis heute eine Traumpartie für jeden spielfreudigen Belcanto-Bariton. Der großartige Bulgare Vladimir Stoyanov spielt schon im berührenden Schicksals-Monolog im 1. Akt seine kernigen stimmlichen Qualitäten und seinen zwielichtigen Charakter aus.   

Schauerliches Thiller-Finale

Übrig bleibt ein Totenschädel, der sich aus der Stringenz des Thriller-Finales ganz zwangsläufig entwickelt. Dort erreicht auch Verdis Musik ihren Höhepunkt, wenn die zuvor aufgebauten Konflikte aufeinander prallen und zur Katastrophe führen. Da erfreut zunächst noch das meisterhafte ineinander verschränkte Quartett „Bella figlia dell’amore“, bevor unter musikalisch höchst atmosphärischem Donner und Blitz und unter dem letztmöglichen Aufgebot der Lichttechnik (Georg Veit) schließlich doch die Falsche anstelle des Herzogs erdolcht wird, nämlich Rigolettos Tochter Gilda.
Bereits im Leichensack zur Versenkung im See verpackt, gibt sie, wie das in vielen italienischen Opern Usus ist, noch ein deutliches Lebenszeichen und singt eine ganze Arie für den gebrochenen Vater, während ihr Double, angetan mit dem selben blitzblauen Kleidchen, im Heißluft-Ballon als reine Seele himmelwärts fährt. Da sind die Zuschauer längst in diesen Sog aus Bühnentechnik und Operndrama geraten, da macht sich nun nach kurzweiligen zwei Stunden auch echte Erschütterung im Publikum breit: Taschentücher raus!
Zuvor hat Gilda im Ballon in 15 Metern schwebend ganz ohne „Höhenangst“ – im doppelten Sinne – ihre gefürchtete Koloraturarie „Caro nome“ blitzsauber abgeliefert. Die französische Sopranistin Mélissa Petit besitzt für diese Rolle aber auch die feinen dunklen Töne und den gewinnenden Charme, mit dem sie den Herzog betört. Für diese Partie ist der Amerikaner Stephen Costello mit seinem strahlenden Tenor, unglaublicher Kraft in den Höhen und einem wunderbaren italienischen Timbre  schlicht die Idealbesetzung. Freilich: Wenn er als überlegener Frauenheld seine lockere Canzone von der Unbeständigkeit der Frauen anstimmt, „La donna è mobile“, dann ist das natürlich ein Paradebeispiel für die #Metoo-Debatte, die, bei aller Notwendigkeit dieses Themas, in letzter Zeit in fast jeder Theater- oder Musiktheaterproduktion in- und außerhalb des Landes bemüht und damit inflationär wird. In diesem Fall öffnet sich beim Lied die künstliche Hand, und an vier Fingern zappeln und „schwimmen“ ebenso viele leichtbekleidete Damen, womit die Zuordnung der Frau als Marionette im Leben des als Zirkusdirektor mit Peitsche agierenden, notgeilen Herzogs klargestellt ist.

Göttlich spielende Wiener Symphoniker

Die weiteren wichtigen Rollen in dieser Dreiecksgeschichte sind mit den beiden Bässen Miklós Sebestyén als gedungener Mörder Sparafucile und mit Kostas Smoriginas als Graf von Monterone besetzt. Die Wiener Symphoniker spielen bei dieser Premiere aber auch wirklich göttlich auf, ihr Verdi mit viel Herzblut und der entsprechenden Italianità ist ihnen höchstes Anliegen. Der mit ihnen lange verbundene Dirigent Enrique Mazzola, der nach „Moses in Ägypten“ damit am See debütiert, sorgt für eine im heutigen Sinne spritzige, deutlich schlanke und auf Effekte bedachte Lesart. Bei Mazzola klappt auch die perfekte Koordination mit den Solisten auf dem langen Weg über Mikros und Monitore tadellos.
Und die jedes Jahr noch etwas verbesserte Soundanlage, BOA („Bregenz Open Acoustics“) genannt, trägt zum perfekt ausgesteuerten und auch nicht aufdringlich lauten Hörvergnügen absolut bei. Bei den bloß drei Choreinsätzen der Oper werden diesmal nur Herren gebraucht. Die Männer des Prager Philharmonischen Chores im Haus, Einstudierung Lukás Vasilek, und des Bregenzer Festspielchores auf der Bühne, Einstudierung Benjamin Lack, erledigen diese Aufgabe mit links.