Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Fritz Jurmann · 05. Feb 2014 · Musik

Eine Musicalproduktion, die unter die Haut geht - Bernsteins „West Side Story“ als umwerfendes Zeitdokument im Originalgewand

So muss Musical sein, wie es ein zusehends begeistertes Publikum am Dienstag im Bregenzer Festspielhaus am Beispiel von Leonard Bernsteins Klassiker „West Side Story“ erlebte: Tempo und Temperament in umwerfenden Tanzszenen, eine glaubhaft gespielte, tragisch endende Liebesgeschichte im Zeitspiegel der amerikanischen fünfziger Jahre – und das alles live gesungen und von einem tollen Orchester live gespielt, ohne jedes Playback und auf einem Niveau, dass man daran seine helle Freude haben konnte. Das rechtfertigt auch die höheren Eintrittspreise, von denen man sich nicht abschrecken lassen sollte, wenn man einen intensiven, unter die Haut gehenden Musicalabend erleben möchte. Die Tourneeproduktion gastiert nach der erfolgreichen Österreich-Premiere noch bis Sonntag im Land.

In europäischen Metropolen gefeiert


Dieses Gastspiel unterscheidet sich ganz grundsätzlich von manch anderen Tourneebühnen, die mit billigen „Best Of“-Aufgüssen aus Musicals hier gastieren, mit Musik „aus der Steckdose“ oder, wie schon zweimal geschehen, mit dem „Phantom der Oper“ als Etikettenschwindel, bei dem kein Ton der Originalmusik von Andrew Lloyd Webber zu hören ist. In dieser Produktion von „BB Promotion“ dagegen, die derzeit in europäischen Metropolen gefeiert wird und nach Bregenz noch vom 11. bis 16. Februar in Salzburg, dann in Zürich und München gastiert, ist alles hoch professionell gestylt. Da wird nichts dem Zufall überlassen, da greift wie in einer gut geölten Riesenmaschinerie mit tausend Rädchen alles perfekt und imponierend ineinander.

Die Grundidee dabei war, die Entstehungszeit dieses Musicals, das der große amerikanische Dirigent und Komponist Leonard Bernstein 1957 geschrieben hat, mit viel authentisch amerikanischem Flair wieder heraufzubeschwören. Dies geschieht vor allem in den mitreißenden Tanzszenen, die in einer von Joey McKneely aktualisierten Inszenierung der Originalchoreografie seines Lehrers Jerome Robbins auch wirklich zum tragenden Element dieser Aufführung werden und als Zeitdokument die über fünf Jahrzehnte seit der Entstehung der „West Side Story“ vergessen machen.

Tanz als Ausdruck von Emotionen


Die Tanzsprache wird hier zum unmittelbaren Ausdruck all der vielen überbordenden Emotionen um Kampf, Hass, Angst, Gewalt und Scheinheiligkeit zwischen den von sozialen Gegensätzen geprägten Jugend-Gangs und der damit einhergehenden Gesellschaftskritik. Eine unglaublich lockere, gut trainierte Tanztruppe setzt das in höchster Perfektion um, bewegt sich meist barfuß, scheinbar fast schwere- und mühelos über das Parkett, in größter Synchronität zur Musik Bernsteins, die in ihrer rhythmischen Prägnanz wie kaum eine andere auch „tanzbar“ ist. Neben den packenden bewegungsreichen Ensembles gibt es auch Szenen von wunderbarer Ästhetik mit eleganten Hebefiguren und Slow-Motion-Effekten in witzigen Kostümen.

„West Side Story“, einst das kühnste Meisterwerk des amerikanischen Musiktheaters, hat seine ungebrochene Strahlkraft und Weltgültigkeit bereits zwei Mal auch auf der Seebühne bewiesen, 1981 noch in der Bär-Ära als schüchterner Versuch der Eroberung neuen Terrains, dann nochmals 2003 am Beginn der nun zu Ende gehenden Pountney-Ära. Der Zulauf des Publikums hat damals Rekorddimensionen angenommen, die erst durch die aktuelle „Zauberflöte“ gebrochen wurden. Insofern stimmt es nicht, wenn im Programm dieser Aufführungsserie promotet wird „Erstmals in Bregenz“ – gemeint sein kann damit allenfalls diese Inszenierung, die sich freilich auch im Vergleich zu damals keinesfalls zu verstecken braucht.

Shakespeares Liebesgeschichte um Romeo und Julia


Grundlage des Spiels ist die Adaption von Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ in eine aktuelle Liebesgeschichte im Westen New Yorks. An die Stelle der sich befehdenden Adelsgeschlechter im mittelalterlichen Verona treten zwei Halbstarken-Banden, die einheimischen „Jets“ und die aus zugewanderten Puertoricanern bestehenden „Sharks“. Die sozialen Konflikte sind vorprogrammiert, vor allem auch für das Schicksal der beiden Liebenden Tony und Maria aus den beiden verfeindeten Lagern. Es kommt zu hasserfüllten Wortgefechten und später zu Messerschlachten, bei denen es Tote gibt, an deren Schicksal Tony nicht unbeteiligt ist. Der Racheschuss eines Sharks streckt ihn nieder – erst dann schließen die Banden Frieden und tragen gemeinsam Tonys Leichnam von der Bühne.

Diese Konflikte sind sehr packend ausgeführt, auch in den simultan übersetzten Dialogen der englisch-amerikanischen Originalversion. Dennoch hätte die längere Wortstrecke im ersten Akt, die einen kleinen Durchhänger beim Publikum verursacht,  ein paar Striche vertragen. Doch ansonsten geht es Schlag auf Schlag in einem für ein Tourneetheater ausgesprochen realistischen und in seiner Trostlosigkeit stimmigen Ambiente samt Video-Zuspielungen, das sich auch dank perfekter Lichtregie innert Sekunden verwandelt. Man fiebert mit im überschäumenden Lebensgefühl dieser aufbrechenden jungen Generation mit ihren Emotionen und Problemen, man ist berührt von der sich anbahnenden bitter-süßen Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria, die sich in der „Balkonszene“ zwischen rostigen Feuerleitern zu einem Allzeit-Hit wie „Tonight“ auf einem vergammelten Hinterhof begibt.

Sängerisch und schauspielerisch top


Bei der Premiere ist als Liebespaar die erste Besetzung mit Anthony Festa und Jessica Soza am Werk, junge, top ausgebildete Leute, die schauspielerisch wie gesanglich absolut überzeugen: Tony im Liebeslied „Maria“, Maria in „I Feel Pretty“, beide in der gespielten Hochzeitsszene. Oder im berührenden Liebesabschied angesichts des Todes oder in einer der schönsten Eingebungen Bernsteins, das als Botschaft aus dieser Geschichte noch lange hängen bleibt: „Somewhere“ - sinngemäß „Irgendwo wird es einen Platz für uns geben, wo Frieden herrscht“.

Überhaupt die Musik zur „West Side Story“: Sie gehört zum absolut Köstlichsten und Kostbarsten, das je für diesen Bereich geschaffen wurde. Sie ist zeitlos, überzeitlich und gerät nie aus der Mode. Denn Bernstein vermeidet konsequent melodiöse Anbiederungen ans Publikum, wie sie später laufend bei seinem Kollegen Webber zu finden sind, begeistert mit einer jazzbetont herben und gerade dadurch ungemein klar faszinierenden Tonsprache und seinem unerschöpflich scheinenden Erfindungsreichtum auch in der Instrumentierung. Am Pult waltet der chinesische Maestro Donald Chan, zaubert fetzige Bläser-Riffs und swingende Passagen ebenso aus dem 23-köpfigen Top-Orchester wie zarteste Regungen und sorgt, zusammen mit dem Mann am Mischpult, auch für die rechte Balance mit der Bühnen und einen insgesamt sehr präsenten, angenehm ausgewogenen Wohlfühl-Sound im Saal.

 

Weitere Aufführungen im Festspielhaus Bregenz:

Mittwoch, 5. Februar bis Freitag, 7. Februar, jeweils 20.00 Uhr
Samstag, 8. Februar, 15.00 und 20.00 Uhr
Sonntag, 9. Februar, 14.00 Uhr
Dauer: Zweieinhalb Stunden inklusive Pause

Vorverkauf: www.v-ticket.at, Bregenz Tourismus, Tel. 0 55 74 / 40 80