Ein Füllhorn an unverbrauchten musikalischen Ideen - die Bezau Beatz 2021
Die von Alfred Vogel ins Leben gerufenen und kuratierten Bezau Beatz zählen für Musik-Fans, die das ganz spezielle, die Grenzen herkömmlicher musikalischer Gewohnheiten lustvoll sprengende Hörerlebnis suchen, seit Jahren zu den Fixpunkten im Konzertkalender. Natürlich erschließt sich der volle Genuss am besten, wenn man sich in Bezau ein Zimmer nimmt und das Drei-Tage-Programm voll auf sich wirken lässt, aber es rentiert sich durchaus auch, wenn man nur einen Tag Zeit hat. Da hört man immer noch genügend Unkonventionelles, das garantiert noch lange nachwirken wird – im vorliegenden Fall war es der Eröffnungstag.
Auftakt in der Kunstschmiede mit der Insomnia Brass Band
Posaunistin Anke Lucks, Baritonsaxophonistin Almut Schlichting und Drummer Christian Marien erfüllten Peter Figers Kunstschmiede mühelos mit einem ordentlichen Hauch Berliner Großstadtluft. „Eine kleine Party zur Eröffnung“ verspricht Schlichting und entsprechend vehement und unterhaltsam geht’s zur Sache, man wähnt sich in irgendeiner Bar in New Orleans, ehe man von einem wilden Schlagzeug-Solo in die Wirklichkeit zurückgetrommelt wird. Der „Frog Rock“ verdient seinen Namen, fährt er doch gleichermaßen rockig wie sprunghaft in die Beine. Marien holt aus seinem minimalistischen Drum-Set sehr effektvoll das Maximum heraus, die Bläserinnen wechseln sich in ihren Rollen als Tieftönerin und Melodienlieferantin ab, umgarnen sich aber auch gerne mal gleichzeitig mit faszinierend ineinander verzahnten Melodielinien. Ein Stück kann unterschiedlichste Stimmungslagen durchwandern: Da wird man mit einschmeichelnden Melodien und mitreißenden Grooves verzaubert, bevor es aber zu gemütlich wird, stört ein experimentelles Zwischenspiel die Idylle – es wird lustvoll dekonstruiert und zerfleddert, ehe man dann mit gefühlvoller Posaunenmelodie und knarzender Sax-Begleitung doch wieder in einer Art Tango landet. Schließlich räkelt sich die Saxophonstin zur lasziven Melodie aus ihrem Schalltrichter, während Posaune und Drums die Rhythmusarbeit übernehmen, bis das Ganze immer mehr an Lautstärke, aber nicht an Spannung verliert und sich schließlich gänzlich auflöst. Sowohl Lucks als auch Schlichting steuern höchst abwechslungsreiche Kompositionen bei, stilistisch sind keine Grenzen gesetzt. Das swingt und boppt, mal meint man orientalische Einflüsse herauszuhören, gleich darauf wird mit einem Stadion-Rock-tauglichen Stück Stimmung gemacht. Kein Wunder, lässt sich doch Schlichting von den Grooves von Bands wie etwa den Red Hot Chili Peppers inspirieren, und Lucks betont, ihr Stück „In My Name“ sei ihrer nicht enden wollenden Punk-Rock-Phase geschuldet. Ein rumpelnd-lauter und rasanter Abschluss mit brachialem Gebläse und einem knüppelharten Drum-Solo. Energievolle Musik, die Spaß macht, aber durchaus ernsthaft musiziert wird. Insomnia Brass Band? Eingeschlafen ist da sicher niemand!
Darrifourcq / Hermia / Ceccaldi – lustvolles Sprengen aller Konventionen
Mit Drummer Sylvain Darrifourcq, Cellist Valentin Ceccaldi und Saxophonist Manuel Hermia, zwei Franzosen und einem Belgier, verlagerten sich die Bezau Beatz dann in die Lokremise, die Zentrale des Festivals. Ein kongeniales Trio aus eigenwillig-kreativen Individualisten, die mit unglaublicher Energie einen eindrucksvollen Spagat zwischen rauschhafter Intensität und abgeklärter Präzision vollführen. Alle drei steuern Kompositionen bei, die durch komplizierte Rhythmuswechsel, effektvolle Breaks, harmonische Raffinessen und permanente Überraschungen gekennzeichnet sind. Stücke können sich von superleisen, äußerst diffizilen Klanggebilden zu schwindelerregenden, ekstatisch vorangepeitschten Hochspannungsfeuerwerken entwickeln, sich von meditativen Gefilden in Hardcore-Dimensionen hochschrauben – und umgekehrt. Da kommen natürlich die vielschichtigen Backgrounds der Akteure effektvoll zur Geltung: Saxophonist Hermia verfügt mit Wurzeln im Free Jazz wie auch in der Weltmusik indischer und arabischer Prägung über ein sehr breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, nicht weniger vielseitig ist Cellist Valentin Ceccaldi, den man vor allem von Projekten mit seinem Geige spielenden Bruder Théo oder dem Trompeter Médéric Collignon her kennt. Sylvain Darrifourcq ist klassisch ausgebildeter Schlagwerker, spielte in jungen Jahren in Rock-Bands und anschließend mit allen, die im französischen Jazz und in der improvisierten Musik irgendwie von Bedeutung sind. Er gilt als höchst einfallsreicher Komponist, nicht weniger innovativ ist er am Schlagzeug. So kreiert Darrifourcq beispielsweise außergewöhnliche Sounds, indem er unterschiedliche Becken aufeinander oder auf den Trommeln reibt oder sie mit verschiedenartigen Metallglocken traktiert – so noch nie gehört! Experimentelle Zupforgien auf dem Cello, polyrhythmische Drum-Explosionen und expressive Sax-Eruptionen in Orkanstärke, ein musikalisches Abenteuer der Extraklasse und ein lustvolles Sprengen aller Konventionen.
Maarja Nuut – Electronic-Spezialistin aus Estland
Die 35-jährige Maarja Nuut studierte an der Estonian Academy of Music and Theatre, beschäftigte sich an der Universität Tartu eingehend mit der traditionellen estnischen Folklore, machte sich in Neu-Delhi mit klassischer indischer Musik vertraut, und vollendete ihre Ausbildung zur Ethno-Musik an der Universität in Stockholm. Längst hat sie sich aber einen Namen im Elektronic-Bereich gemacht und wurde auch schon als estnische Björk bezeichnet. Nach einer langen, pandemiebedingten Pause präsentierte Nuut in Bezau erstmals ihr neues Programm, in dem sie zeitgemäße, teils tanzbare Electronica mit alten estnischen Weisen kombiniert, die sie mit ihrem angenehmen Alt wirkungsvoll intoniert und für kunstvolle Loops nützt. Ihre Musik, in die auch überarbeitete Field Recordings eingebettet sind, ist klischeefrei, eher zurückhaltend und subtil, manche hätten sich zur Abwechslung auch Zupackenderes gewünscht. Gegen Ende des Auftritts verselbständigte sich dann das elektronische Equipment, selbst die rote Stopp-Taste, die laut Maarja Nuut sonst als einzige immer funktioniert, quittierte den Dienst. Ob sich möglicherweise einige der Millionen von Insekten, die heuer ihre Heimat witterungsbedingt heimsuchten, wie Nuut erzählte, in der Technik eingenistet haben? Jedenfalls verabschiedete sich die sympathische Estin ohne jegliche maschinelle Begleitung mit einem alten Traditional über eine Frau, die soviel weinte, dass der ganze Boden rundum sie nass war und die Tiere zu trinken hatten. Kein Grund zur Traurigkeit, das Publikum verabschiedete Maarja Nuut mit einem warmherzigen Applaus.
No Tongues – alles, außer gewöhnlich
„Les Voies de l’Oyapock” hieß das Programm des französischen Quartetts No Tongues. Der Oyapock ist der einstmals heftig umkämpfte, 370 km lange Grenzfluss zwischen Französisch-Guyana und Brasilien. Illegale Goldsucher machen die Gegend unsicher und zerstören die Umwelt, was die Existenz der dort lebenden indigenen Naturvölker zusätzlich bedroht. Die beiden Kontrabassisten Ronan Prual und Ronan Courty, der Trompeter Alan Regardin und der Saxophonist und Bassklarinettist Matthieu Prual verbrachten 2018 mehrere Wochen in dieser Region und studierten das Leben und die Musik der Teko und der Wayapi in deren Dörfern Camopi und Trois-Sauts in Französisch-Guayana. Die Ergebnisse ihrer Feldforschung setzt das Quartett aus Nantes allerdings höchst eigenwillig um. Während sie die gerne bei Trinkgelagen mit Maniok-Bier aufgenommenen Gesänge im Original einspielen, setzen sie dazu die Klänge des Flusses, der Urwälder und der Tierwelt mit ihren Instrumenten um, die sie allerdings nur in Ausnahmefällen so klingen lassen, wie sie üblicherweise klingen. Sie präparieren die Instrumente und verwenden sie vorwiegend perkussiv, imitieren Vogelstimmen und andere Naturlaute, oft dominiert Geräuschhaftes. Durch die starke Rhythmisierung nehmen die Stücke einen rituellen, fast magischen Grundcharakter an, es entstehen Soundscapes im Spannungesfeld von Traum und Realität. Ein Dschungel voller musikalischer Ideen, die unter Verwendung traditioneller akustischer Instrumente völlig unkonventionell umgesetzt werden. Alles, außer gewöhnlich. Mit diesem faszinierendes Experiment jenseits aller üblichen Hörgewohnheiten ging der erste Bezau Beatz Abend eindrucksvoll zu Ende.