Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Peter Niedermair · 03. Aug 2019 · Musik

„Der Reigen“ von Bernhard Lang bei den Bregenzer Festspielen

Bernhard Langs Musiktheater „Der Reigen“ führte als österreichische Erstaufführung am 30. und 31. Juli auf der Werkstattbühne des Bregenzer Festspielhauses in 90 Minuten zehn Paarbegegnungen vor, die sich für ein kurzes sexuelles Techtelmechtel treffen. Die Inszenierung von Michael Sturmingers Libretto nach Arthur Schnitzlers Der Reigen (1920) wurde in einer Koproduktion mit der Neuen Oper Wien zu einem grandiosen Erfolg. In rondoartigen Schleifen und Wiederholungen à la Thomas Bernhard führt der österreichische Komponist Bernhard Lang das Aufsehen erregende Schnitzler Stück als Panorama der klischeegesättigten Jahrhundertwende vor und positioniert es zwischen spielerischer Heiterkeit, Fragen der Sittlichkeit und den Lücken der Geschlechter. Alle inszenatorischen Elemente, vom Libretto bis zum Kompositionsprinzip, vom Bühnenbild bis zum zentral vor der eigentlichen Bühne positionierten Orchester, von der Lichtregie bis zu den Kostümen, zeigen mit jedem weiteren Loop, die Struktur des Teco-Meco, der variierten Wiederholung in der Szenerie des Fin de siècle. Ohne Verschnaufspause, atemlos gehetzt vom nimmersatten Begehren, wechselt ein Gspusi zum nächsten. Die Inszenierung Alexandra Liedtkes verschränkt die Komposition von Bernhard Lang stilistisch zum vielschichtig analytischen Instrumentarium, zutiefst menschliche Verhaltensweisen mit der sich wiederholenden Grundstruktur von Verführung, dem ausgesparten nur musikalisch inszenierten Sexualakt und dem Sprechakt im Nachspiel, der das different gesättigte Begehren in die nächste Schleife zieht.

Analytisch-scharf über Liebe, Sexualität, Frauen und Männer nachgedacht

 

Die Ouvertüre „Zwielicht“ nimmt den „Reigen“ thematisch wie strukturell auf und spielt das Wort „Liebe“, das mit einem Stift auf die fünf auf einer Stange aufgereihten Sitze buchstabiert wird, in die Erwartungszone des Publikums. Damit soll ganz im Sinne des Lang’schen Musiktheaters die Sinnlichkeit und die entsprechend dramaturgische Spannung berühren und interessieren (Programmheft S. 8). Dort im Publikum weiß man um die Loop-Maschinerien, das sprachliche Rondo des Thomas Bernhard, um „Die Welt von Gestern“, wie sie Stefan Zweig beschrieben hat: „In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen ausgeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebenso wenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder eine Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung“, um die Theorien Sigmund Freuds, um das Thema der Verdrängung, der Tabuisierungen, des Antisemitismus, der im Wien der vorvorigen Jahrhundertwende unter Karl Lueger  massiv verbreitet war, man weiß um die Auswanderung der Psychoanalyse ins Exil, dort weiß man um Beziehungen, die in einer hypervernetzten Welt zunehmend nach ihrem Warenwert bemessen und konsumiert, gebraucht und weggeworfen werden. Die Psychologisierung des Alltags mit unabsehbaren Folgen für den Einzelnen geht voran, die Innerlichkeit, in die wir uns zurückzögen, wird zum Schauplatz der Selbstermächtigung. Die im „Reigen“ heterogen angelegten Figuren erweitern sich in der historisch distanzierenden Entfernung von der Schnitzler’schen Version durch die ritualisiert inszenierte Begierde, die die Figuren gleicher macht, die Begegnungen bleiben unverbindlich, vermehren die Einsamkeiten, das trostlos sich aneinanderreihende Spiel des Reigens geht durch alle Gesellschaftsschichten.

Wege in die Seele

Der Schnitzler’sche Textduktus von 1897 und die Aufführung von 1920 – mit Blick auf die mittlerweile gut 100 Jahre dazwischen liegenden gesellschaftlichen Positionen von Mann und Frau –, zeigt einen Autor, der als HNO-Arzt und Psychoanalytiker die Frauen verstand. Bernhard Lang gelingen die Portraits seiner heterogenen Figuren, wirkungsvoll und sicher platziert in ihren Halbwelten mit Stilelementen der Musik aus unterschiedlichen Richtungen, – am Pult des Amadeus Ensembles Wien der Neue-Oper-Wien-Chef Walter Kobéra – mit collageartig eingesetzten Assoziationen zu Lou Reeds Velvet Underground, Erich Satie, dessen Klangraum jene Misstöne angeben soll, die sein Musikstück klingen lasse „wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen“, und Claude Débussys impressionistische Färbungen, mit offenen Anklängen an hochwirksame Rap-Elemente, die mit dem klassischen Orchester, Synthesizern und Drums in einen Klangteppich gewoben werden. Die vom Rap entlehnten Elemente, dass der Schauspieler, den man dabei beobachten kann, wie er an seiner Hand die fünf Male mitzählt – ein und denselben Satz handlungs- und leitmotivisch wiederholt, legt auch den sprachlichen Inhalt demaskierend frei und entlarvt. Es wird gelogen, dass die Balken nur so krachen. Bernhard Lang meint, seit 1897, als Schnitzler sein Theaterstück verfasste, habe sich am Menschen nichts geändert, sein „Theater der Wiederholungen“ soll das Lügen „hörbar, sichtbar, erfahrbar machen“. „Die Lüge ist eines der großen Themen des Stücks: A lügt B an, B lügt C an – eigentlich sagt niemand die Wahrheit, am ehesten noch die Prostituierte“. Sie ist die erste und die letzten Figur des Musiktheaterstücks.

„Es geht immer um das gleiche Muster zwischen ‚Mann und Frau‘“

 

betont Alexandra Liedtke im Gespräch (Programmheft S. 27). Die im Stück als langer Gedankenstrich dargestellte sexuelle Praktik, der von Schnitzler ausgesparte Orgasmus, als Kern des Dialogs, wird in der Musik als immer gleiche Monotonie übersetzt, eine zwanzigstimmige Transkription von mikrotonal gespielten Synthesizer Modulen, die je nach persönlicher Übersetzung und Phantasie, auf einen Zustand oder eine Bewegung hinweisen. Unmittelbar danach – wie im richtigen Leben – der Weg hinaus, Hose wieder hoch und zugeknöpft. In den Dimensionen der sexuellen Dialoge bleibt das großartig gespielte und wunderbar inszenierte aktuelle Stück mit Anita Giovanni Rosati, Barbara Pöltl, Thomas Lichtenecker, Alexander Kaimbacher, Marco di Sapia ein gutes Stück weit in der dominierenden männlichen Erfahrungsperspektive. Alexandra Liedtka im Gespräch mit Olaf A. Schmitt: „Es ist die immer gleiche, stoßende, wiederkehrende Bewegung, ganz selten emotional aus einer Weichheit heraus. Darum dachte ich, dass der Sex in dem Moment immer aus der Perspektive des handelnden Mannes betrachtet wird. Und was danach bleibt, ist ganz oft das ‚Gefühl der Frau‘. Der Akt wird als monotones, gleichförmiges Stoßen beschrieben – ein Küssen, Streicheln, Anfassen, Empfinden kommt nicht vor.“ (Programmheft S. 30) Ähnlich bekannte Anklänge an die metaphorische Bildsprache des Sexuellen gibt es im beeindruckend aufwändigen Bühnenbild und in den Videoszenen von Falco Herold, u.a. der im Wasser treibende Körper, der nach dem Coitus eingespielt wird. Das Bühnenbild ist poetisch phantasievoll, oszilliert zwischen historischen Fotos und dem weißen Malstift, den eine Hand wie eine Art identitätsstiftende Einladung führt, zeigt Autobahnabfahrten vor den Toren Wiens, Soziale Wohnbauten aus dem Roten Wien der Neunzehnwanzigerjahre, das Hotel Orient am Tiefen Graben im ersten Bezirk, U-Bahn-Stationen und Tiefgaragen oder einfach nur ein Kinderfahrrad in der Waschküche, wo das Merry-Go-Round der Waschmaschine den Orgasmus begleitet. Die Schnitzler’sche Ironie spiegelt sich in Langs Musik ebenso wie Liedtkes Inszenierung, verzerren sie an zahlreichen Stellen, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. 

Wie sexy ist dieser Pragmatismus heute?

 

Die Inszenierung kommt mit fünf Personen aus, zwei Frauen und drei Männern. Davon wiederum sind zwei Rollen für Countertenor komponiert. Mit diesen beiden Rollen erweitern sich die Variablen und die Spielmöglichkeiten der Regie, zwei zusätzliche Identitäten kommen in diesem Musiktheater für fünf Stimmen und 23 Instrumente hinzu. Damit wird zwar nicht das Glück auf der Bühne (des Lebens) an sich vermehrt, weil sich die Schemata nicht grundsätzlich verändert haben. Mögliche Partner_innen sucht man sich in der außerliterarischen Wirklichkeit aus wie Handschuhe bei  Amazon. Sex markiert meist den Beginn einer Begegnung und oft gleich auch schon das Ende. Ghosting heißt  das Verschwinden ohne Abschied aus dem Leben des konsumierten andern, heute werden diese aus dem Smartphone gelöscht. Wenn bei der Anbahnung die neuen Kommunikationstechnologien statistisch betrachtet die Effizienz der Partnersuche steigern, fördern sie nach dem „französischen Abgang“ die Kultur der Lieblosigkeit. Im Musiktheater an sich werden die gesellschaftlichen Unterschiede, die in Schnitzlers Reigen noch stark herausgestrichen sind, eher nivelliert, nicht gänzlich aufgehoben, Mann und Frau, mir zumindest schien es so, sind gleichwertiger, aber nicht gleich. Zu Beginn des Stücks in der ersten Szene geht die Prostituierte, gegeben von Barbara Pöltl, an der Autobahnvorstadt entlang der Nacht und trifft den Polizisten; am Ende sitzt die Prostituierte allein auf der Plastikbank. Dazwischen das weite Land zwischen Liebe und Sex und 90 Minuten gehobene, perfekt inszenierte Gesellschaftsanalyse, so wie Schnitzler sich das damals ausdachte. Ob die sexuelle Befreiung die Freiheit zur normativen Grundlage der Liebe erhoben hat, wissen wir nach dem Stück zwar immer nicht wirklich genau. In der Bregenzer Inszenierung, die im Herbst ins Museumsquartier nach Wien geht, ist das offen geblieben. Wir müssten nochmals bei Schnitzler nachlesen. Sein Paradigma der Moderne bleibt aktuell wie eh und je. Den Bregenzer Festspielen ist mit dieser Koproduktion etwas ganz Außergewöhnliches gelungen. Musiktheater vom Feinsten.

 

Der Reigen, Bernhard Lang, Musiktheater
Libretto von Michael Sturminger 2012,
nach Arthur Schnitzlers Reigen 1896/97
Musikalische Leitung Walter Kobéra
Inszenierung Alexandra Liedtke
Bühne Falko Herold, Florian Schaaf
Kostüme | Video Falko Herold
Klangregie Christina Bauer
Licht Norbert Chmel
Dramaturgie Olaf A. Schmitt
amadeus ensemble-wien