„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Fritz Jurmann · 23. Jul 2021 · Musik

Der Festspiel-„Rigoletto“ am See wird zur bejubelten Wiedergeburt nach der Krise

Dieser „Rigoletto“ am See ist nicht umzubringen. Auch die Premiere der Wiederaufnahme am Donnerstag wurde zum Bombenerfolg, getragen von der Begeisterung einer mit 7.000 Menschen fast ausverkauften Tribüne. Das erzwungene Jahr Corona-Pause seit der ersten, zu 100 Prozent ausverkauften Aufführungsserie der Verdi-Oper von 2019 hat der Inszenierung von Philipp Stölzl nicht geschadet, der im Vorfeld gar von einer „Wiedergeburt“ seiner Schöpfung gesprochen hat. Und auch gleich davon, dass er unter dem Motto „Never change a winning team“ heuer nichts an seiner Inszenierung ändern wolle, weil ohnedies alles passt.

Dem kann man nur vollinhaltlich zustimmen, und weil auch die weiteren Voraussetzungen für ein Open Air am Bodensee ideal passen, wird das einer jener Traumabende, wie man sie selbst in Bregenz selten erlebt. Die Sonne scheint als glühend roter Ball im (Schwäbischen) Meer unterzutauchen, die Luft ist mild, nicht zu heiß, nicht zu kalt. Und von Regen keine Spur. Nur am deutschen Ufer türmt sich bald nach Beginn eine dunkle Wolkenwand auf, aus der es immer wieder blitzt. Als dann im dritten Akt, gut eine Stunde danach, Verdis Operngewitter mit Blitz und Donner über die Bühne fegt, hat sich das echte längst verzogen.

Bedenken wegen Corona

Eine andere, weit ernstere Bedrohung freilich ließ diese Aufführung unter ganz besonderen Vorzeichen stattfinden. Noch im Frühjahr war bei der Festspielleitung das große Zittern angesagt, ob überhaupt und wenn ja man wohl die ganze oder nur die halbe Tribüne bei „Rigoletto“ besetzen werde könne. Das heißt für die Bregenzer Festspiele bares Geld an Einnahmen, die nach dem Entfall des Festivals im Vorjahr und dem Aufbrauchen von Reserven heuer umso dringender benötigt werden.
Doch es geht sich mit der Lockerung der behördlichen Vorgaben in der Modellregion Vorarlberg schließlich gerade noch aus, alles ist gut und von den Auflagen ist bloß die 3-G-Regel übriggeblieben, sogar die Maskenpflicht gefallen. Die doppelten Einlasskontrollen am Vorplatz funktionieren auch ohne größere Staus, nur beim einzigen winzigen Kiosk am Platz bildet sich gegen 20 Uhr eine endlose Schlange von Leuten, die nichts wollen als bitteschön ein kühles Getränk vor Beginn der zweistündigen Aufführung. Da tut Abhilfe not. Aber ansonsten ist die Erleichterung der Zuseher über diese momentane „Normalität“ im Kulturbereich fast körperlich spürbar, überall sieht man nichts als fröhliche, erwartungsvolle Gesichter, gespannt auf ein in seiner Art einzigartig spektakuläres Ereignis von enormer Strahlkraft und emotionaler Bewegung. 

Vom Clownskopf zum Totenkopf

Allein die Grundidee des von Philipp Stölzl gemeinsam mit Heike Vollmer ersonnenen Bühnenbildes mit dem riesigen Kopf ist ein Geniestreich, mit dem er dieses angejahrte, nach wie vor unglaublich populäre Opernmonument gehörig entstaubt hat. Denn diese Skulptur erweist sich dank ihres hochtechnisierten Innenlebens als höchst wandelbar und nimmt zwischendurch immer wieder sogar menschliche Züge an. So lässt sich allein aus der stückweisen Verwandlung des ursprünglichen Clownskopfs in einen Totenschädel die zunehmende Dramatik der parallel ablaufenden Opernhandlung erkennen. Das kapiert jeder, da braucht es nicht mehr viel an weiteren Erklärungen.
Dass Stölzl zudem die Handlung vom Hof des Herzogs von Mantua in eine Zirkusarena von heute verlegt hat, macht von Anfang an gute Stimmung, wenn die Zirkuskapelle zusammen mit einer bunten Artistentruppe vor Beginn durch die Zuschauerreihen marschiert und der Clown ganz oben auf dem Kopf sein Allotria treibt. Und so ist auch der Herzog hier nichts weiter als der Zirkusdirektor, der unter anderem eine gut dressierte Schimpansengruppe befehligt, während er eine Arie singt. Rigoletto wird vom Hofnarren natürlich zum Clown im heutigen Sinne, mit durchaus auch ernsthaften und schmerzhaften Zügen, und seine Tochter Gilda bleibt Tochter, nur eben in einem heutigen Sinne.            

Mix aus Bühnentechnik und Operndrama

Da ist er also wieder, der viel bestaunte, hochtechnisierte Ablauf aus Licht, Ton, Schauspiel, der auch diesmal wie am Schnürchen funktioniert. Und einer immer wieder hinreißenden Musik, die einen mit ihrem Hitcharakter oftmals zum Mitswingen animiert. Die dazu notwendige, heuer weiter perfektionierte BOA (Bregenz Open Acoustics) wird am Anfang freilich noch sehr zögerlich ausgesteuert, bis man sich nach und nach dem gewohnten satten Dolby-Surround-Klang annähert. Die Show hat in diesem Mix aus Bühnentechnik und Operndrama als Lockmittel für ein breites Publikum am See natürlich ein gewichtiges Wort mitzureden, allerdings stellen die Showelemente nie die Integrität des Operngeschehens infrage.

Erstmals eine Frau am Pult am See

Der Fokus diesmal gilt also den Novitäten in der Besetzung, allen voran am Dirigentenpult. Mit einiger Bestürzung hat man erkennen müssen, dass es geschlagene 75 Jahre gedauert hat, bis man erstmals einer Frau am See die Verantwortung am Dirigentenpult anvertraut hat. Man kann die Engländerin Julia Jones mit ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck, den sprechenden Gesten und einer klaren Vorstellung über die Monitore betrachten. Sie macht das hervorragend, kennt ihren Verdi in- und auswendig. Aber Leute, die meinen, Jones dirigiere Verdi einfach nur langsamer als ihr oft etwas gehetzt wirkender Vorgänger, liegen falsch. Die Tempi stimmen absolut, nur geht Julia Jones als Frau feinsinniger und detailreicher ans Werk, lässt Verdi mehr Luft zum Atmen, und die wunderbar aufspielenden Symphoniker pflichten ihr durchgehend bei. Auf ihr Kommando hören auch die Chöre – die Prager Philharmonischen Sänger im Haus und der 20-köpfige Bregenzer Festspielchor outside. 

Die drei Hauptpartien

Fast neu und wie immer drei- bis vierfach besetzt sind auch die drei Hauptpartien der Oper. Da ist bei der Premiere erstmals ein chinesisch-stämmiger Herzog, Long Long, der viel tenorales Metall in der Stimme und sichere Höhen aufweisen kann und auch als Draufgänger mit seiner Arie „La donna e mobile“ gute Figur abgibt. In der Traumpartie für jeden Belcanto-Bariton erlebt man als Rigoletto so wie im Vorjahr den Bulgaren Vladimir Stoyanov, der schon im berührenden Schicksals-Monolog im 1. Akt seine kernigen stimmlichen Qualitäten und seinen zwielichtigen Charakter ausspielen kann und im Finale echte Erschütterung im Publikum auslöst.
Gilda schließlich in der Person der russischen Sopranistin Ekaterina Sadovnikova im blauen Tüll wird bei ihren Höhenflügen mehrfach gefordert. Man fragt sich, wie man sich so akrobatisch auf der Riesenbühne bewegen und dabei noch genügend Luft haben kann, um schwindelfrei auf 15 Metern Höhe im Ballon die blitzsauberen Koloraturen des Ohrwurms „Caro nome“ in den Nachthimmel zu setzen, die ihr ein findiger Komponist in die „geläufige Gurgel“ geschrieben hat. Aber das ist ein Zitat von Mozart, und wir sind ja bei Verdi, einen ganzen Sommer lang.
Was unter diesen Voraussetzungen zu wünschen bleibt, ist allein – gutes Wetter!