Musik als Beitrag im Kampf gegen das Böse
Das Concerto Stella Matutina und Reinhard Haller zogen das Publikum in ihren Bann
Auf Fragen über die "dunkle Seite der Menschen" habe er von den Kolleg:innen keine adäquaten Antworten erhalten, leitete Thomas Platzgummer das dritte Abonnementkonzert des Concerto Stella Matutina ein. Fündig geworden sei er aber im Abonnementen:innenkreis, nämlich bei Reinhard Haller. Kurzerhand wurde der weithin bekannte Psychiater und Autor eingeladen, um Kriminal- und Mordfälle von Komponisten zu analysieren. Die Zuhörenden erlebten ein Gesprächskonzert, bei dem nicht allein die musikalische Deutung im Mittelpunkt stand. Lebensgeschichten und Schicksale von komponierenden Mördern und Ermordeten, Tyrannen, Revolutionsopfern und einem "Halsstarrigen" gaben den Anstoß für auskunftsreiche Gespräche.
Dass auf der Liste von Verbrechern auch der seriöse Johann Sebastian Bach zu finden ist, illustriert, wie sich die Zeiten geändert haben. Bach wollte seinen Dienstvertrag nicht korrekt einlösen, weil er in Köthen ein besseres Angebot erhalten hatte. Ihm wurde daraufhin „Halsstarrigkeit“ vorgeworfen und er wurde vier Wochen lang eingesperrt.
Andere Geschütze wurden mit Carlo Gesualdo aufgefahren. Er ging nicht nur als Verfasser der Madrigalbücher in die Kompositionsgeschichte ein, sondern als Mörder seiner Geliebten, deren Liebhaber sowie einem Kind. Der Tyrann Antoine Forqueray machte seiner Ehefrau das Leben zur Hölle. Politische Umstände forderten viele Opfer, als Beispiele führte das Concerto Stella Matutina Niccolò Piccinni, Jean-Frédéric Edelmann und Ignaz Josef Pleyel an. Ihrem sozialen Umfeld fielen Alessandro Stradella und Jean-Marie Leclair zum Opfer, beide wurden unter nicht geklärten Umständen ermordet.
Von J.S. Bach erklang in der Kulturbühne AMBACH das Brandenburgische Konzert Nr. 6 (BWV 1051) mit Lucas Schurig-Breuß und Wolfram Fortin als Solisten. Die Bratschisten musizieren in einem ausgewogenen Geben und Nehmen miteinander, sodass die kanonisch ineinander geschlungenen Linien in den Ecksätzen über dem federnden Duktus des Basso Continuos herauskristallisiert wurden. Die Besetzung mit zwei Bratschen, zwei Gamben, Violoncello und Cembalo verlieh dem Werk einen reizvollen, dunklen Klangcharakter.
Wahrscheinlich profitierten die Zuhörenden in den vorderen Reihen von der Nähe zum Ensemble auch in Carlo Gesualdos fünfstimmigem Madrigal „Resta di darmi noia“. Die sensibel aufeinander hörenden Musiker:innen an den beiden Violinen, Viola da Gamba und Violoncello beleuchteten die harmonischen Zusammenklänge und den Bewegungsfluss des Lamentos gut.
Ein feines Klanggewebe wurde in der Allemande von Antoine Forqueray „Trois pièces de violes“ herauskristallisiert. Allerdings war die Klangbalance in der Courante nicht ideal, denn die virtuosen Linienführungen der Gambe waren kaum hörbar. Die Ouvertura à 8 von Niccolò Piccini erklang mit einem aufgewühlten Duktus. Die absteigenden Linien und die dynamischen Kontraste im Andante brachten die Emotionen hervorragend zum Ausdruck, während das Presto etwas schwerfällig wirkte.
Haydn und Mozart schätzten die Kompositionen von Jean-Frédéric Edelmann sehr. In der Ouvertüre zum historischen Ballett „Acte du Feu“ kam der stürmische Impetus des Werkes voll zur Geltung. Ebenso spannend waren die Auszüge aus einer Revolutionshymne von Ignaz Josef Pleyel, die das Concerto Stella Matutina in voller Orchesterbesetzung spielte. Pleyel musste die Musik unter politischem Zwang schreiben, weil er als Royalist denunziert worden war. Die Dramatik lag zuerst in der unterschwelligen Spannung der Wechseltonlinie im einleitenden Adagio. Die zerklüftete Musik gestaltete das Orchester plastisch aus, mit aufbrausenden Akkordballungen, Tremoli, Trompetenappellen, Trommel und Pfeifen sowie einer abschließenden Schlacht.
Erholung bot Alessandro Stradellas Sinfonia aus „La forza delle stelle“, in der die Streicher:innen den fugierten Satz feinsinnig zelebrierten. In der Suite aus „Scylla et Glaucus“ von Jean-Marie Leclair formte das Orchester die aus den Metamorphosen des Ovid erzählte Geschichte vom Wasserdämon Glaucus, seiner von ihm verehrten Nymphe Scylla und der eifersüchtigen Zauberin Kirke anschaulich. Das Schicksal und die Schreie der Ungeheuer und wohl auch der Opfer wurde mit ausgefallenem Instrumentarium wie Donnerblech und Windmaschine in Szene gesetzt.
Die Werkdeutungen warfen die Frage auf, ob die Persönlichkeitsstrukturen der Komponisten und ihre Lebensumstände in den dargebotenen Kompositionen nachvollziehbar sind. Musikalisch können Tatbestände und Erzählungen nicht 1:1 übersetzt werden. Die Musik hat ein weit darüber hinausreichendes Potenzial. Dies wurde auch im Gespräch deutlich, das Thomas Platzgummer mit Reinhard Haller führte.
Thomas Platzgummer hatte an diesem Abend viel zu tun. Erstens hatte er die musikalische Leitung inne, zweitens spielte er teilweise virtuose Celloparts und drittens richtete er kluge Fragen an den eingeladenen Gast. Reinhard Haller ging von den einzelnen Schicksalen aus. Doch er hob alle Geschichten auf eine breitere, auch gesellschaftliche und politische Ebene. Das Augenmerk richtete er unter anderem auf Ehrenmorde, die toxische Männlichkeit, den Narzissmus, und er erzählte über „Straßenlächler und Zuhausekrächler“. Das Böse sei in jedem Menschen vorhanden und entstehe hauptsächlich durch die Abwesenheit der Empathie, resümierte Reinhard Haller. Sport, Wettkämpfe und auch das Internet würden Möglichkeiten bieten, Aggressionen abzubauen.
Doch allen voran ist die Musik die wahre „Weltverbesserin“. In ihr finden gute und böse, schmachtende und brutale Gefühle Platz und Raum, in der Musik dürfen und können sie dargestellt, ausgelebt, ausgefochten und durchlitten werden.