Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Anita Grüneis · 12. Mär 2022 · Medien

Sebastian Sele im Schlösslekeller: Von einem der auszog, das Retten zu lernen

Der Journalist Sebastian Sele liebt was er tut und tut was er liebt. Das wurde bei seiner Lesung im Vaduzer Schlösslekeller deutlich.  Am 1. März 2020 hatte sich der Eschner Journalist selbständig gemacht - er wollte ins Ausland. Durch die Pandemie wurden seine Pläne vereitelt, so arbeitete er vorerst weiter in Europa und suchte vor Ort nach interessanten Projekten. Einige davon stellte er an diesem Abend vor.

Alle Texte, die er an diesem Abend vorlas, waren nach 2020 entstanden. „Ich bin Unternehmer", sagte Sebastian über sich selbst und fügte hinzu: „Mein Geschäft sind die Menschen. Ich höre zu, wenn sie von Gedanken, Gefühlen und Gesehenem erzählen, schreibe das Gehörte auf und nenne das Geschichte, weil es sich so verkaufen lässt." Gleichzeitig relativierte er seine Arbeit und meinte: „Jedes Wort banalisiert die Realität." Wichtig sei für ihn, Perspektiven einzubringen, die man sonst nirgends bekommt. Dafür reist er zu den Menschen hin, die ihm ihre Wirklichkeiten schildern und bringt seine eigenen Anschauungen mit ein. Durch Corona in Zürich festgehalten, begann er sich mit dem Alltag von Obdachlosen, Drogenabhängigen und Sexarbeiterinnen auseinanderzusetzen. 

Sexarbeit und Hoffnung

So notierte er am 6. Juni 2020: „Die neue Normalität an der Langgasse sieht der alten erstaunlich ähnlich." Seine Recherchen zum Alltag der Sexarbeiterinnen in der Pandemie sei viel Arbeit gewesen, betonte er, vor allem musste er das Vertrauen der Frauen gewinnen. Als dann eine von ihnen beschloss, dass Sebastian Sele „ein guter Mensch" sei, durfte er sie einen Nachmittag begleiten und erfuhr nicht nur viel über ihren Arbeitsalltag, sondern auch über ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben. Neunzig Prozent ihrer Kunden würde sie behandeln wie einen Hund, sagte sie und verriet ihre Angst, dass ihr dreijähriger Sohn mal „so werden könnte wie ihre Kunden".

Homosexualität und Angst

Sebastian Sele spricht in seinen Texten von „starken Menschen, die unter der Last ihrer Biografien einknicken". Solchen Menschen begegnete er auch auf den Kanaren, wo ihn unter anderem das Schicksal eines geflüchteten Homosexuellen aus Marokko beschäftigte. „Und in Liechtenstein hält es einer für notwendig, in aller Öffentlichkeit Homosexuelle mit Pädophilie in Verbindung zu bringen", notierte er und spielte damit auf das Interview des Fürsten im Radio L an, der darin erklärt hatte: „Wenn Homosexuelle Knaben adoptieren, ist das nicht unproblematisch". Sebastian Sele dazu weiter: „Von Unternehmer zu Unternehmer: ­Wonach wählen Sie, werter Durchlaucht, Ihre Worte aus? Ist es auch das Leben?"

Cannabis aus dem Libanon

Auch aus dem Libanon brachte der Journalist spannende Perspektiven mit. Dabei ging es unter anderem um die rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, die im Libanon Aufnahme gefunden haben und um die Legalisierung von Cannabis. Die Beratungsfirma McKinsey hatte errechnet, dass das Geschäft mit Cannabis für medizinische Zwecke dem libanesischen Staat jährlich rund 1 Milliarde Dollar in die Kasse spülen würde. So besuchte Sebastian Sele die Kleinbauern auf dem Land, von denen die meisten vom Cannabis-Anbau leben, weil dort sonst nichts wächst. Sie fürchten nun, dass bei einer Legalisierung die Anbaulizenzen unter den Freunden der Regierung verteilt werden. Vor Ort hatte der Journalist nur ein Problem – als er von Ordnungskräften kontrolliert wurde, wussten diese nichts von einem Land namens Liechtenstein und konnten seinen Pass nicht zuordnen.

Leben retten auf dem Meer

Seine bisher wichtigste Arbeit enstand nach seinem Einsatz auf dem Seenotrettungschiff  „Ocean Viking". Dabei war Sebastian Sele hautnah bei allem dabei, erlebte das Retten von Flüchtlingen in letzter Minute, aber auch das Zuspätkommen. „Die Leiche eines Mannes trieb neben dem Schiff, ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen", erzählte ihm eine Retterin. Bei dieser Reise hatte er viel fotografiert und zeigte die eindrücklichen Bilder, die ihre eigenen Worte sprachen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Überfahrt klappt, lag vielleicht bei einem Prozent", sagte ihm einer der Flüchtlinge, „aber das ist mehr als null Prozent". Dass Sebastian Sele trotz all der harten Realitäten seinen Humor nicht verloren hat, zeigte sich beim Anlegen der „Ocean Viking" im Hafen von Augusta in Sizilien: „Vor einem Berg von Schrott haben die Behörden dort ein Zelt zur Registrierung aufgestellt. Das Meer haben sie überlebt. Jetzt wartet das europäische Asylsystem".

Auf nach Südamerika

Am Sonntag reist Sebastian Sele für einen Monat nach Kolumbien zum Darién Gap, einem Dschungelstück zwischen Panama und Kolumbien, wo seit Längerem eine Migrationskrise im Gange ist. Dann will er weiter in den Süden von Kolumbien zu den indigenen Völkern. „Hat man einmal mit dem Retten angefangen, kann man nicht mehr aufhören", meinte eine der Seenotretterinnen. Da wartet noch viel Arbeit auf den 33-jährigen Journalisten.

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