Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Annette Raschner · 14. Mär 2022 · Literatur

Auf der Suche nach dem Licht

Was vermag die Literatur angesichts eines unfassbaren Schicksalsschlags, wie es der Tod des eigenen Kindes darstellt? Schon vor zehn Jahren hat der aus Vorarlberg stammende Schriftsteller Wolfgang Hermann in seinem Roman „Abschied ohne Ende“ versucht, über das Unfassbare zu schreiben. „Das Leben ist wie eine Flüssigkeit. Ohne Hoffnung stockt sie und verliert jedes Licht“, heißt es am Beginn des Buches. Nun ist im Wiener Czernin Verlag die Erzählung „Insel im Sommer“ erschienen. Auch darin ringt ein Icherzähler um seine Existenz und sein eigenes Weiterleben.

„Seit jenem Morgen, als ich meinen Sohn tot in seinem Bett fand, gab es den, der ich einmal war, nicht mehr“. Der namenlose Icherzähler hat das Gefühl, unsichtbar geworden zu sein. Er nimmt sich selbst nur noch als Schatten wahr, und immer wieder überfällt ihn die Angst wie ein Raubtier. „Es ging los, wenn die Bilder mich überfielen. Der Morgen. Das Zimmer meines Sohnes.“
Die wahre Enge, die einst die Provinz für ihn verkörperte, lernte er erst mit dem Verlust von Fabius kennen: „vollkommene Verlorenheit“. Seine Frau hat ihn längst verlassen, die Freunde haben die Geduld mit ihm verloren. Sein Wunsch: sich im Dahintreiben vergessen zu können. Aber alles ist ihm fremd geworden. „An den vertrauten Plätzen spürte ich meine innere Leere umso schmerzhafter.“

„Es halfen weder Schlaf noch Therapie“

Für Wolfgang Hermann, den „Nomaden des Literaturbetriebs“, der „über den Durst der Ehrgeizigen nach Zugehörigkeit nur den Kopf schütteln kann und sich das einsame Leben und Denken und Schreiben in der Wildnis und an der Peripherie um keinen Preis nehmen lässt“ (Johann Holzner, Germanist), hat seinen Roman „Abschied ohne Ende“ vor Jahren als sein schwierigstes und persönlichstes Buch bezeichnet; Mit der Erzählung „Insel im Sommer“ mag es sich nicht viel anders verhalten haben. Der Icherzähler ist seinen Empfindungen hilflos ausgeliefert. Die Hölle, er hatte sie schon einmal im LSD-Rausch erlebt, ist diesmal eine, der er nicht mehr entkommen kann. „Es halfen weder Schlaf noch Therapie“.
Die erste schöne Erfahrung nach langer Zeit heißt Cristina, sie ist Spanierin und mit einem Mann verheiratet, der nur seine Arbeit wahrzunehmen scheint. Alles passiert selbstverständlich zwischen ihnen, und es herrscht eine große Nähe, trotz der gebotenen Heimlichkeit. „Von Anfang an gab es eine Vertrautheit zwischen uns, eine Art Komplizentum“. Sie treffen sich im Park, gehen ins Hotel, dann auch zu ihm nachhause. Aber dann äußert Cristina eines Winterabends den Wunsch, ein Kind mit ihm zu bekommen. „Ich sah unser Kind, doch im selben Augenblick sah ich die Augen meines toten Sohnes, und jemand in mir sagte wie so oft in den Jahren seither: Es ist vorbei, du bist verloren“.

Nach der Trennung von Cristina entflieht der Icherzähler der verhassten Kleinstadt und besteigt einen Zug nach Paris. Wie ein Schatten seiner selbst geht er durch die Straßen. „Doch selbst als Schatten spürte ich in dieser schnellen, ganz nach außen gekehrten, eitlen Stadt, was mich damals, als ich hier lebte, getragen, fortgerissen hatte mit einem Atem, der einen nah am Puls des Lebens zu sein verlangt“.
Immer wieder beschwört Wolfgang Hermann den Gegensatz von damals und heute herauf. Als junger Mann hatte er sich seine Lieblingsstadt Paris ergangen und den „Weltwind“ in sich aufgenommen, „um der zu werden, der verborgen in mir schlummerte“. „Die Brücken über die Seine wurden meine Atemstationen, meine Ruhebrücken.“

Trauma verhindert Verwandlung

Beim Lesen von „Insel im Sommer“ fühlt man sich an Wolfgang Hermanns Buch „Paris Berlin New York. Verwandlungen“ von 1992 erinnert, in dem der Autor den Versuch einer philosophischen Reise- und Flaneursprosa vorgelegt hatte; eine Prosa von der Verwandlung des Alltags. Diese Verwandlung will dem Icherzähler angesichts des erfahrenen Traumas nicht mehr gelingen. Weder in Paris noch in Marseille-Saint-Charles, wo er die Marktgassen mit den maghrebinischen Ständen durchstreift, noch in Aix im Herzen der Provence, wo er als fröhlicher junger Mann einige Zeit gelebt hatte. Es treibt ihn weiter nach Le Tholonet am Fuße der beeindruckenden, von Cezanne so oft gemalten Sainte-Victoire, wo er ein befreundetes Paar mit dessen zwei Töchtern besucht und traurig konstatieren muss: „So viel Zeit war vergangen in einem anderen Land, in das ich ohne Begeisterung, nur aus Vernunftgründen zurückgegangen war, denn hier in der Provence hatte es für mich keine finanzielle Zukunft gegeben. Dort hatte ich mir eine eigene, kleine Welt aufgebaut, mit Frau und Kind und Beruf, und nun war alles dahin“.

„…als fahre ich in Farben“

Obwohl sich beim Icherzähler keine innere Ruhe einstellen will, nimmt er das Angebot von Carroll und Pierre an, ein paar Tage bei ihnen zu bleiben – und lernt noch einmal eine große Liebe in Gestalt einer Künstlerin kennen, die mit ihrer kleinen Tochter in einem alten Haus an der Rückseite der Sainte-Victoire lebt. Erst jetzt kann er die Schönheit der ihn umgebenden Landschaft mit wachen Sinnen in sich aufnehmen, und der Autor kann uns Leser:innen mit feinsinnigen Beobachtungen beglücken, die das Fernweh so richtig erwachen lassen!
„Es war, als fahre ich in Farben. Rote, ockerfarbene Erde, die in den Maquis überging, später Lavendel, und noch später, als sich nach einem sanften Anstieg die Straße nach Puyloubier senkte, der Blick weit hinaus über die Zeilen der Weinstöcke“.

Lesung Wolfgang Hermann „Insel im Sommer“
gemeinsam mit Mathias Müller
Do, 24.3., 19.30 Uhr,
Kuppelsaal, Vorarlberger Landesbibliothek Bregenz

Wolfgang Hermann: Insel im Sommer
Czernin Verlag, Wien 2022, Hardcover, 72 Seiten
ISBN: 978-3-7076-0754-3, € 17