"Old White Clowns" derzeit am Vorarlberger Landestheater (Foto: Jos Schmid)
Ingrid Bertel · 09. Jul 2024 · Literatur

„Macht, was will!“

Romandebüt von Petra Pellini: „Der Bademeister ohne Himmel“

Was ist das Beste am Sterben? Linda weiß es: „Niemand kann dir mehr mit der Zukunft drohen.“ Linda ist 15 und lebensmüde. Wenn die Suizidgedanken übermächtig werden, steigt sie zwei Stockwerke höher zu Hubert. Der ist „voll dement“ und, wie es aussieht, der einzige, der Linda versteht. Ausgenommen vielleicht Kevin, doch für Kevin ist die Zukunft eine einzige Drohkulisse. Petra Pellini wählt für ihr Romandebut ein düsteres Thema, doch der Roman ist federleicht, ein Pageturner voller Szenen von bezaubernder Frische.

Liegt es an der Erzählperspektive? Erzählerin ist die 15-jährige Linda mit ihrem trockenen Humor. Ihr Suizid mache Sinn, ist sie überzeugt. Dadurch nämlich werde die Welt besser. „So ein junges Ding“, denke da einer, „hat ihr Leben gar nicht gelebt.“ Und „dann wird er heimgehen und sein Kind umarmen. Ein anderer wird seinen Scheißjob kündigen. Ein Dritter wird nie mehr seine Frau schlagen.“
Linda ist kein Kind, das umarmt wird – dafür ist sie momentan gerade zu biestig. Außerdem umarmt Mama nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Mann lieber ihren neuen Freund Jürgen. Den kann Linda nicht leiden. Und an den Vater denkt sie voller Schrecken.
„Als Kevin und ich uns kennenlernten, hatten wir nichts zu lachen. Seine Eltern waren frisch getrennt und meine im Krieg.“ Damals war Kevin Lindas „Klotz am Bein“, weil sie ihn jeden Tag auf den Schulweg mitnehmen musste. Jetzt ist Kevin zwar ein Vollnerd, aber auch „voll intelligent“ und außerdem Lindas bester Freund. Oder gebührt diese Ehre doch Hubert? Linda löst gegen ein Taschengeld regelmäßig seine Pflegerin Ewa ab, damit die sich ein, zwei Stunden lang ihren Freundinnen, ihren Nägeln und ihrer Marienverehrung widmen kann. 

Weil Hubert den Himmel verloren hat

Ewa findet Hubert anstrengend. „Macht, was will“, schimpft sie, wenn Hubert wieder einmal seine Zähne sucht, Walnusshälften versteckt oder Schwimmflügel aufbläst, die er, der langjährige Bademeister im Bregenzer Strandbad, stets parat hält. Nie ist bei ihm ein Kind verunglückt. „Wir alle sollten macht, was will machen“, findet Linda. Sie taucht in Huberts Welt ein und findet heraus, dass es unendlich vieles gibt, was sie mit dem alten Mann gemeinsam hat, und vieles, was sie von ihm erfahren kann über das so ungeliebte Leben. „Du bist der Bademeister“, sagt sie, „ich bin der Fragemeister.“
Linda stapelt Brockhaus-Bände aufeinander und springt vom „Beckenrand“, um durch das Wohnzimmer zu kraulen. Linda versucht, Huberts Kopf so weit zurückzubiegen, dass er den Himmel sehen kann. Und weil das alles nicht hilft, macht sie mit Kevin Tonaufnahmen im Strandbad. So kann Hubert wieder Bademeister sein und Kinder beschützen. Und dann ist da noch Ewa „mit ihren liebenden Augen“. Ewa backt Apfelkuchen, sucht im Wald Kräuter für ihre Salben und vertraut ansonsten der schwarzen Madonna von Czȩstochowa. Ewa sieht, dass Hubert stirbt. Linda sieht es. Nur eine sieht es nicht: Huberts Tochter. Linda nennt sie „Nachtfalter“, weil sie dasteht, als hätte sie hauchdünne Flügel, „so zerbrechlich hat sie ausgesehen“. Ewa aber und Linda machen den labilen Haushalt zu einem Ort, an dem das Wünschen noch hilft.

Über mir die Wolke

Es passiert fast nichts in diesem Roman, und das macht ihn so spannend. Petra Pellini geht nahe an ihre Figuren heran, so nahe, dass wir sie spüren können und erfahren, wie Respekt, Freundlichkeit, Witz und Neugier Menschen miteinander verbinden. 
„Was Hubert am wenigsten braucht, sind Menschen, die wissen, was gut für ihn ist. „Ist bei mir zu Hause auch so“, tröste ich ihn.“ Und noch eins, weiß Linda, teilt sie mit Hubert: „Aus mir soll etwas werden, dabei interessiert niemanden, wer ich wirklich bin.“ Wieso muss Hubert „aktiviert“ werden? Wieso muss Linda Mathe lernen? Lieber will sie an den See, und zwar mit Hubert. Den Ausflug setzt sie auch durch, und er wird zu einem solchen Glücksmoment, dass sich Linda tatsächlich überlegt, weiter zu leben. Schon auch, weil Kevin ihr ein passendes Geschenk zum 16. Geburtstag macht, ein Buch für traurige Tage mit dem bezeichnenden Titel „Über mir die Wolke“.
Und dann passiert plötzlich doch ganz viel. Kevin verlässt sein Zimmer und geht mit Linda spazieren. Hubert hört auf sich mitzuteilen und erkennt Linda nicht mehr, „und im selben Moment weiß ich, dass ich nur irgendjemand für ihn bin.“
Petra Pellini hat eine wunderbare Sprache für Linda gefunden, klar, schnörkellos, voller überraschender Zwischentöne, mit leisen, niemals aufdringlichen Anklängen an Jugendsprache. Ein paar kleine Manierismen fallen da nicht weiter ins Gewicht – etwa dass ihre Figuren die Augen „aufspannen“ oder ein „Cappy“ tragen. Gewichtiger sind da schon die leuchtenden Bilder. „Endlich frei“, flüstert Linda, als Hubert geht, „und ich stelle mir vor, wie Hubert den blauen Himmel entlangspaziert …“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/August 2024 erschienen.

Petra Pellini: Der Bademeister ohne Himmel, Rowohlt Kindler Verlag Hamburg, 320 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-463-00068-8, € 24,50; erscheint am 16.7.2024