Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Markus Barnay · 07. Sep 2022 · Literatur

Zwischen Propaganda und Paranoia – Nikolaus Hagens Buch über die NS-Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg

„Ein neuer Lebenswille ist erstanden, Brauchtum und Kultur wachsen in neuer Blüte, Lebensfreude erwacht, die Jugend blickt in eine neue Zukunft.“ Arthur Lezuo hieß der Mann, der sich im November 1938 so äußerte und damit geradezu beispielhaft auf den Punkt brachte, was das nationalsozialistische Regime auszeichnete: Seine blumige Propaganda stand in einem krassen Missverhältnis zur Realität. Speziell die Kultur wuchs nämlich während der sieben Jahre NS-Herrschaft mitnichten in neuer Blüte, sondern verschwand von Jahr zu Jahr noch mehr hinter der prächtigen Propaganda-Kulisse.

Nicht zufällig war Arthur Lezuo Gaupropagandaleiter für Tirol und Vorarlberg, und nicht zufällig war generell im NS-Staat die Kulturpolitik ein Teil des Propagandaapparates, der Vorrang des Scheins gegenüber dem Sein war gewissermaßen Grundprinzip der vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels dirigierten Politik.

Heiße Luft statt konkreter Kultur

Aber wie hat die Kulturpolitik im Reichsgau Tirol und Vorarlberg, der von April 1939 bis Mai 1945 bestand, im Detail funktioniert? Wer hat was bestimmt und wer hat wo davon profitiert? Solche Fragen zu beantworten hat sich der aus Lustenau stammende Historiker Nikolaus Hagen in seiner Dissertation vorgenommen, die er Ende 2017 an der Universität Innsbruck einreichte und die im Frühjahr als Buch erschienen ist. Es ist – mit fast 600 Seiten – ein dickes Buch geworden, das sei vorausgeschickt, und es ist eines, das wissenschaftlich seriös, aber eben auch sehr detailreich den Machtverhältnissen und Einflusssphären zwischen Berlin, Wien und Innsbruck nachspürt und dabei auch aufdeckt, wie viel heiße Luft in den Jahren der NS-Herrschaft produziert, aber längst nicht immer als solche erkannt wurde. Bregenz spielte in diesen Machtspielen eine untergeordnete Rolle, weil sich in der einjährigen Phase der politischen Eigenständigkeit Vorarlbergs von März 1938 bis April 1939 die kulturpolitischen Strukturen erst entwickelten und manche Einrichtungen quasi über Nacht wieder verschwanden. So wurde zum Beispiel im Sommer 1938 in Bregenz ein eigenes „Amt für kulturelle Angelegenheiten“ eröffnet, das aber „bald sang- und klanglos wieder verschwand“ (Hagen, S. 46).
Die zentrale Einrichtung der nationalsozialistischen Kulturpolitik war das Reichspropagandaamt Tirol-Vorarlberg mit Sitz in Innsbruck, das schon lange vor der offiziellen (Wieder-)Vereinigung von Tirol und Vorarlberg gegründet wurde, nämlich im Juli 1938. Kulturelle Aktivitäten hatten sich demnach in den Dienst der NS-Propaganda zu stellen und wurden denn auch so weit als möglich zentral gesteuert und gleichgeschaltet. Diese „Gleichschaltung“ betraf auch sämtliche Kulturvereine, die entweder aufgelöst oder kurzerhand in den Parteiapparat eingegliedert oder zu Hilfsorganisationen einer der Parteigliederungen degradiert wurden. Als Ziel der Kulturpolitik galt denn auch laut Reichssicherheitshauptamt die „Beseitigung der gesamten gegnerischen Kulturorganisationen und Kulturinstitutionen liberaler, jüdischer, freimaurerischer, marxistisch und politisch-konfessioneller Art“ (Hagen, S. 54).

Staatlich sanktionierter Raubzug der Partei

De facto handelte es sich auch in diesem, wie in vielen anderen Fällen der NS-Herrschaft, um einen staatlich sanktionierten Raubzug, in dessen Verlauf sich die Partei und einzelne Funktionäre bereicherten und in dem es oft vor allem darum ging, sich Macht, Einfluss und Pfründe zu sichern. So wurde kurzerhand das Vermögen der Kulturvereine konfisziert, die NSDAP übernahm aber auch ganze Betriebe in ihr Eigentum. Das „Vorarlberger Tagblatt“ beispielsweise, das, wiewohl längst brav nationalsozialistisch ausgerichtet, der Vorarlberger Buchdruckerei-Gesellschaft gehörte, hinter der unter anderem einflussreiche Rechtsanwälte standen, wurde 1941 vom NS-Gauverlag übernommen.
Zur einflussreichsten Kultureinrichtung entwickelte sich der Ende 1938 gegründete Standschützenverband, dem praktisch alle Musikkapellen und Schützenvereine angehören mussten. Zuvor hatten sich einzelne Musikvereine noch geweigert, in NS-Organisationen eingegliedert zu werden. Die Bürgermusik Rankweil beispielsweise hatte sich der Anordnung, sich in die SA einzugliedern, widersetzt, weil das „mit den Aufgaben der Bürgermusik nicht vereinbar“ sei.

Karriere im NS-Staat, hofiert im Nachkriegs-Vorarlberg

Solche Verweigerungen blieben freilich die Ausnahme: Andere Kulturträger wie etwa die Vereinigungen der bildenden Künstler ließen sich freiwillig „gleichschalten“, und „Brauchtumspfleger“ wie die Trachtenvereine hatten sich ohnehin schon längst in den Schoß der Nationalsozialisten begeben. Die „Reichstrachtenbeauftragte“ Gertrud Pesendorfer gehörte aber auch zu jenen Menschen, die während der NS-Herrschaft Karriere machten und deren Arbeit auch nach 1945 noch vielfach gewürdigt wurde. Dasselbe gilt auch für die Autorin Natalie Beer, die in der NS-Frauenschaft Unterschlupf fand und nach dem Krieg von der Vorarlberger Landesregierung großzügig alimentiert wurde.
Andere Kulturschaffende konnten weniger von ihrer NS-Begeisterung profitieren: Künstler wie Karl Eyth, Georg Ligges, Emil Gehrer oder Bartle Kleber biederten sich zwar schon bei der ersten großen Kunstausstellung nach dem „Anschluss“ mit „Führerbildnissen“, „Hitlerbüsten“ und Porträts der lokalen NS-Größen dem neuen Regime an und dienten ihm auch – mit Ausnahme von Gehrer – als Funktionäre, aber die große Karriere, die ihnen Landeshauptmann Plankensteiner bei der Eröffnung der Ausstellung versprochen hatte, blieb aus: „Im alten, kleinen Österreich war der Raum zu eng gezogen. Heute können die Künstler hoffnungsfroh in die Zukunft sehen, da wir eingeschlossen sind in den Verband unseres 75-Millionen-Volkes.“ Das Volk scheint allerdings die Qualität des Schaffens der betreffenden Künstler nicht erkannt zu haben. Die bedeutendste Vorarlberger Künstlerin blieb deshalb Stephanie Hollenstein. Die 1944 verstorbene fanatische Nationalsozialistin machte nicht nur als Obfrau der „Vereinigung bildender Künstlerinnen der Reichsgaue der Ostmark“ Karriere, sondern war auch als Künstlerin erfolgreich, obwohl ihr expressionistischer Stil nicht gerade dem Ideal nationalsozialistischer Kunstvorstellungen entsprach. Das ist allerdings ein Befund, der sich durch die gesamte NS-Kulturpolitik zieht: Was jeweils als „nationalsozialistisch“ oder „volksecht“ galt, war oft der Willkür der Funktionäre überlassen – und dem jeweiligen Stand des Machtkampfs zwischen Berlin, Wien und Innsbruck.

Nikolaus Hagen: Nationalsozialistische Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg. Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Band 30. StudienVerlag, Innsbruck 2022, broschiert, 578 Seiten, ISBN 978-3-7065-5939-3, Euro 39,90