Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Peter Füssl · 05. Sep 2022 · CD-Tipp

Black Midi: Hellfire

Nie war scheinbares Chaos perfekter strukturiert und bis ins kleinste Detail durchdacht! Nach dem 2019-er Debüt „Schlangenheim“ und dem vor einem Jahr erschienenen grandiosen „Cavalcade“, starten Gitarrist/Pianist/Sänger Geordie Greep, Bassist/Sänger Cameron Picton und Drummer Morgan Simpson nun mit ihrem dritten Album „Hellfire“ – nomen est omen – neuerlich eine allumfassende Attacke auf die Hörgewohnheiten.

Mit neun Stücken und einem kleinen Noise-Interlude nimmt das aus der überbordend kreativen Südlondoner „Windmill“-Szene stammende Trio die Hörerschaft auf eine knapp vierzigminütige Achterbahnfahrt mit, die mit einer unglaublichen Menge an Twists und Turns gespickt ist, an radikalen Breaks und Tempowechseln, an Hochgeschwindigkeitsexzessen und entschleunigtem Schönklang, an permanenten Stilsprüngen und Stimmungswechseln. Im Extremfall gerne auch alles zusammen innerhalb eines Stückes. Auch wenn die Akteure erst 22 bzw. 23 Jahre alt sind, haben wir es hier mit virtuosen, an der renommierten BRIT School ausgebildeten Könnern zu tun, die mit ihrem radikalen Post-Prog-Rock-Avant-Folk-Fusion-Jazz-Highspeed-Flamenco-Pseudo-Cabaret-Music Hall-Was-auch-immer-Sound viel näher an absoluter Perfektion sind als am Chaos. Dem Zufall bleibt in diesem – teilweise auch mit Streicher- und Bläserklängen aufgefetteten – höllischen Kreativ-Feuersturm gar nichts überlassen. Auch die im Zusammenhang mit unter anderem Björk, M.I.A., Animal Collective, Groove Armada, The xx, FKA Twigs, Glass Animals oder Porridge Radio bekannte italienische Produzentin und Tonmeisterin Marta Salogni, die bereits beim letzten Album ein Stück produziert hatte und eben als „UK Music Producer of the Year 2022“ ausgezeichnet wurde, hat hier hervorragende Arbeit geleistet. Dieser Sound verlangt natürlich nach starken, exzentrischen Texten. So lässt der immer schon von unterschiedlichsten mythologischen Höllen-Vorstellungen faszinierte Geordie Greep eine ganze Armada an – wie er es nennt – „Mistkerlen und Drecksäcken“ antanzen, deren charakterloses Tun und mysteriöse Geschichten oft auf realen, von Greep notierten Begebenheiten basieren. Manche der in „Ich-Form“ erzählenden Charaktere wären auch durchaus einer Short Story würdig. Aber der Reiz des Gegensätzlichen wird nicht nur musikalisch, sondern auch in den Texten ausgelebt, die keineswegs in absoluter Düsternis versinken, sondern auch lichte Momente aufblitzen lassen. Folglich bewegt es sich auch stimmlich in einem breiten Spektrum zwischen deklamatorischem Sprechgesang und ironisch konnotiertem Crooning. Apropos Ironie: Der Band ist es sehr wichtig, dass der Anteil des Humors an ihrem schwindelerregend vielfältigen, ungemein intensiven, kraftvollen und wuchtigen, exzentrischen, teilweise durchaus auch theatralisch anmutenden Gesamtkunstwerk, nicht übersehen wird: „Black Midi möchten nicht, dass du sie oder ihre Musik zu ernst nimmst. Black Midis Musik kann extrem, überschwänglich, kathartisch, komisch, absurd, überbordend, intensiv, cineastisch, brutal sein.“ Ein Adjektiv haben sie noch vergessen: faszinierend!   

(Rough Trade/Beggars)