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Ingrid Bertel · 10. Dez 2021 · Literatur

Wenn der Schwertdrache um die Arche kreist

In einer Arche voller zauberhafter Tiere schwimmt Tone Fink der Pandemie davon, Leichtmatrose Max Lang gibt dem alten Piraten das Geleit. „Während der zweiten ‚Krönchenzeit‘ sind mir die freien Ideen vergangen“, schreibt Tone Fink. Deshalb habe er nach „einer schweren Knochenarbeit“ gesucht, „die das Eingesperrt-Sein vollkommen aussperrte.“ Das Ergebnis liegt nun als Kunstbuch vor. Tone Fink hat Tiere portraitiert - seltene, bedrohte und sehr bedrohte, teilweise frei, teilweise nach Aufnahmen des amerikanischen Fotografen Joel Sartore. Es finden sich in „Arche.Tone“ aber auch allerhand „Bestien und real existierende Wesen“ nach Holzschnitten aus Conrad Gessners „Historia Animalium“ (1550).

Sie alle lädt Tone Fink in seine Arche und haucht ihnen neues Leben ein, ein sehr expressives Leben. Der Buntfrosch versucht dem konsequent eingesetzten A4-Format – bei dem bisweilen die Perforierung des Blocks erhalten geblieben ist – zu entkommen. Manch anderes Tier füllt das Format mit seinem Geweih oder sprengt den Rahmen mit einem sich sträubenden Fell. Sie strahlen vor jugendlicher Körperspannung (wie sie auch ihrem Schöpfer Tone Fink zu eigen ist) und sind prachtvoll anzusehen, vor allem der australische Seelöwe. „Aus den Skeletten der toten Fische bastelt er sich Schmuck“, schreibt Max Lang, „manchmal Gewinde, die er stolz um den Hals trägt.“
Von „seltenen Physiognomien“ spricht Tone Fink – und tatsächlich sind seine Tiere Individuen, ihr Ausdruck so differenziert wie ein menschlicher. Verzückt, die Augen genießerisch geschlossen, riecht das Zieserl an einer Löwenzahnblüte, taucht eine Pfote zart in die Blütenblätter – mit einem Lächeln, so zauberhaft, dass man sich nicht von diesem Bild lösen mag. Ein Mandrill-Weibchen breitet schützend die Arme um sein Junges. „Der Mandrill“, schreibt Max Lang dazu, „schläft tagsüber an einen Baum gelehnt. Selten entfernt er sich weit von seiner Lagestätte. Dann nur, um einen Freund zu besuchen oder im Geist durch die Welt seiner Vorfahren zu streifen.“
Und über die Schnee-Eule: „Wenn sich ihr ein Mensch nähert, schließt sie sofort ihre leuchtenden Augen.“ Leuchtende Augen haben viele von Tone Finks Tieren. Das Fingertier hat darüber hinaus eine äußerst feinnervige „Hand“. Und der Liebaffer präsentiert nicht nur stolz seine Genitalien, sondern auch seine rot lackierten Nägel. Aus seinem Maul flammt eine Vulva. Er sei sehr romantisch, behauptet Max Lang: „Zuweilen überrascht er seine Frau mit einem Geschenk. Oder er führt sie in einer stillen Mondnacht zu jenem Platz, an dem sie sich kennenlernten.“
Tone Fink erweist sich in diesen Bildern als unglaublich vielseitiger Kolorist. Es gibt bestimmt nicht viele Maler, die über eine derart feine und umfangreiche Palette verfügen. Studieren lässt sie sich in den am Ende des Buches angefügten „Tierfarbmischblättern“.

Fabelwesen
Der Liebaffer gehört zu den Fabelwesen aus Conrad Gessners „Historia Animalium“, ebenso wie das Sprungeichkätzchen mit seinen langen Hasenohren und eine Anzahl höchst merkwürdiger Fische mit Drachenflügeln, langer Zunge und feuerroten Augen. Nicht aufgenommen in seine Sammlung hat Fink den wohl berühmtesten Holzschnitt aus der „Historia Animalium“: Albrecht Dürers „Rhinocerus“. Und wer in „Arche.Tone“ blättert, wird den Grund dafür bald ahnen.
Dürer hat selber nie ein Nashorn gesehen. Seinen Holzschnitt gestaltete er 1515 nach einem Brief und einer Skizze von Valentim Fernandes. Dieser hatte das Nashorn – ein Geschenk an den portugiesischen König Manuel I. – in dessen Menagerie im Ribeira-Palast gesehen. Dort genoss das Tier, das in Europa seit Jahrhunderten nicht lebend gesehen worden war, einen beinahe mythischen Status. Kein Wunder also, dass Gessner 35 Jahre später Albrecht Dürers halb erfundenes Geschöpf mit seinem gepanzerten Körper in die „Historia Animalium“ aufnahm. Erstaunlich aber ist, dass Dürers Holzschnitt Jahrhunderte lang das Vorbild für naturwissenschaftliche Werke abgab.
1790 veröffentliche James Bruce in seinem Buch „Reisen auf der Suche nach den Quellen des Nils“ eine Abbildung des Nashorns, die er folgendermaßen beschrieb: „Das hier abgebildete Tier ist in Tscherkin, bei Ras el Feel, heimisch … und diese Zeichnung ist die erste, die ein Rhinozeros mit zwei Hörnern dem Publikum vorführt. Die erste Darstellung des asiatischen Nashorns, welches nur ein Horn besitzt, wurde von Albrecht Dürer nach der Natur gemalt … Sie war erstaunlich ungenau in allen ihren Teilen und war das Vorbild all der ungeheuerlichen Formen, unter denen das Tier immer wieder gemalt wurde. … Hier ist die erste veröffentlichte Darstellung eines Nashorns mit zwei Hörnern. Es ist nach der Natur gezeichnet und stellt eine afrikanische Art dar.“
Die Illustration, die da so vollmundig angekündigt wird, sieht allerdings ziemlich mittelalterlich aus und kann die Nähe zu Dürers „Rhinocerus“ keineswegs verleugnen, stattet doch auch sie das Tier mit Panzerplatten aus. Wir, die wir Nashörner im Zoo oder im Fernsehen gesehen haben, können beurteilen, dass da auch anatomisch einiges nicht stimmt.

Zeichnen nach der Natur
Vielleicht aber ging es Dürer, anders als James Bruce, gar nicht um ein „Zeichnen nach der Natur“. Wenn er die Haut des Nashorns in Form von schuppigen Platten wiedergab, betonte er deren Rauheit. Vielleicht wollte er sich nicht auf eine rein visuelle Darstellung beschränken. Unsere kulturelle Vorstellung von einem Nashorn wäre jedenfalls nicht ärmer, wenn sie taktile Sensibilität miteinschlösse. Auf jeden Fall zeigt das Dürer’sche Nashorn, dass der Künstler die relevanten Merkmale des Tiers gültig definierte. Und darin besteht die Aufgabe der Kunst. Tone Fink stellt sich dieser Aufgabe, und es ist der Respekt eines Künstlers vor einem großen Kollegen, wenn er das „Rhinocerus“ nicht in seine Sammlung aufnimmt.

Schnell, mutig und listig
„Das dosig Thier ist des Helfantz todefeyndt“, heißt es im Text zu Dürers Holzschnitt. Der Elefant fürchte das Nashorn, weil es ihm mit dem Kopf zwischen die Beine fahre und ihm den Bauch aufschlitze. „Sie sagen auch das der Rhinocerus Schnell/ Fraydig und Listig sey.“ Verblüffende Parallelen zu Max Langs Erzählungen tun sich auf: Auch er mischt fröhlich populärwissenschaftlichen Stil mit frei flottierendem Märchen. Auch er betont – und bleibt damit nah an Tone Finks künstlerischem Gestus – das Menschenähnliche der Tiere. „Er ist äußerst feindselig“, schreibt er beispielsweise über den Felsenpinguin mit seinen wilden gelben Augenbrauen. „Menschen, die in sein Revier eindringen, straft er mit bösen Blicken.“
Rund um Tones Arche schwimmt der Schwertdrache, dessen Schwanz einer Säge gleicht und den Bug der Arche durchaus anritzen könnte, hätte er nicht noch eine weit bedeutendere Waffe, wie Max Lang weiß: „Es heißt, wenn man ihn reizt, können seine Blicke das Herz des Menschen durchbohren.“ 
Superkräfte haben sie leider nicht, die bedrohten und die legendenhaften Tiere in diesem Buch. Aber ihr Stolz und ihre Schönheit, ihre Frische und ihre Zartheit lassen uns erahnen, dass wir im Begriff sind, eine ganze Welt zu zerstören. Vielleicht baut Tone Fink seine Arche gegen den Klimawandel. Und dann hat er sicher Max Lang als Gefährten mit an Bord.

Ingrid Bertel ist Redakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Tone Fink, „Arche.Tone“, mit Texten von Max Lang, Bibliothek  der Provinz, 2021, 128 Seiten, ISBN 978-3-99126-049-3