Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Klaus Lutz · 22. Jun 2015 · Literatur

Von einem, der auszog, das süße Leben zu lernen - „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ - Der neue Roman von Wolfgang Hermann

In seinem neuen Roman „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ erzählt Wolfgang Hermann die Geschichte eines Mannes, der sich den „realen“ Herausforderungen eines bürgerlichen Lebens zu entziehen trachtet, sich lieber seinen Tagträumen überlässt und entsprechend planlos in den Tag hinein lebt. Damit ist der namenlose Ich-Erzähler eine zeitgenössische Abwandlung eines literarischen Typus, wie er seit Joseph von Eichendorffs Taugenichts immer wieder porträtiert worden ist. Allerdings wissen wir heute um die Instanz des Über-Ich, etwa in der Person eines übermächtigen Vaters, die das ungebrochene Ausleben eines derartigen Lebensentwurfs empfindlich stört. So bezeichnet sich der Erzähler einerseits als „Taugenichts der alten Schule“, andererseits – wenn auch mit einem ironischen Augenzwinkern – als „Nichtsnutz und Tunichtgut“, und er erhält karikierende Züge.

Der „Flaneur“

Von seiner dominanten Ehefrau Helga des Hauses verwiesen, entwirft der Erzähler in der Rückschau zunächst das Bild einer alemannischen Kleinstadtfamilie, das von der emotionalen Kälte und autoritären Willkür eines tyrannischen Patriarchen geprägt ist. Nach der Matura begibt er sich in die „Hauptstadt“, um dort pro forma auf väterliches Geheiß BWL zu inskribieren. In Wirklichkeit will er sich „ein Leben in Freiheit erobern“. So taumelt der Protagonist von einem erotischen Abenteuer ins nächste. Ebenso ungeplant verlaufen auch seine sporadischen Besuche auf der Universität, wo er sich in der philosophischen Fakultät heimischer fühlt als unter den BWL-Studierenden. Trotzdem bleibt er natürlich bei einer Wirtschaftsstudentin hängen, und seine Karriere des Flaneurs findet mit der Heirat und Rückkehr in die „Kleinstadt“ ein jähes Ende. An die Stelle des tyrannischen Vaters ist der eiserne „Realitätsmensch“ Helga getreten, der das Heft in der Hand hält und den Ehemann mit einem monatlichen Taschengeld abspeist. Am Schluss gelingt ihm aber doch noch so etwas wie ein vorsichtiger Akt der Selbstbehauptung.

Hommage an das Kino

Neben der Thematik des männlichen Rollenverständnisses – amüsant die parodistische Schilderung eines „Männerseminars“! – ist der Roman auch eine Hommage an das Kino. Für den Erzähler ist es der entscheidende Bezugspunkt seiner Erfahrungen: Was immer er erlebt, assoziiert er mit Filmszenen. Andererseits versucht er sich anhand von diesen im „wirklichen“ Leben zu orientieren. So etwa in der Szene mit der eleganten Pariser Enddreißigerin im Cafe „Sacher“: „Ich durchforstete mein Gedächtnis nach passenden Szenen aus Kostümfilmen, versuchte mich an die Gesten der Gentlemen in Situationen wie dieser zu erinnern“. Zahlreiche Dialoge in derartigen Episoden sind nach Art eines Filmskripts verfasst, sodass ein reizvoller Schwebezustand entsteht, bei dem man nicht mehr sicher sein kann, was im Leben des Erzählers Wirklichkeit und was Imagination ist. Dieser – ironisch häufig gebrochene – Schwebezustand verleiht dem Text großteils spielerische Leichtigkeit und Humor.

Allerdings begibt sich Hermann damit auch auf einen schmalen Grat zwischen treffender Karikatur und Albernheit. Als sich der Erzähler entschließt, dem Beruf eines „Auftragsmörders“ nachzugehen und damit endlich zur Tat zu schreiten, wird die Bereitschaft der Leserin / des Lesers, sich auf derartige Tagträume weiterhin einzulassen, recht strapaziert, selbst wenn auch dieser Entschluss eine ironische Umkehr findet.

Zeitliche Widersprüche

Weiters ergeben sich Widersprüche hinsichtlich der historisch-konkreten Zeitabschnitte und des Alters des Erzählers. Bezüglich seiner „Studentenzeit“ wird ein ziemlich nostalgisches Bild eines universitären Alltags entworfen, das bestenfalls für die Zeiten vor rigorosen Budgetkürzungen sowie verschärften Aufnahmebedingungen eine gewisse Gültigkeit hatte. Somit müsste diese Phase spätestens in den frühen 1980er-Jahren angesiedelt sein. Das würde auch einer Kindheitserinnerung des Erzählers entsprechen: Ein Mitarbeiter seines Vaters erschien mit einem „Gogomobil“ (sic!) zur Arbeit, einem Fahrzeug, das Ende der 60er-Jahre aus dem Straßenbild verschwand. Gleichzeitig sieht der Erzähler als junger Student den Film „Wie im Himmel“, der erst im Jahr 2005 in die Kinos kam. Das würde bedeuten, dass die „Hauptstadtjahre“ des Erzählers nicht einmal zehn Jahre zurückliegen und er zum Zeitpunkt, da die Erzählung einsetzt, etwa 30 Jahre alt ist. Dieses Alter passt jedoch weder zu der Erzählerfigur, noch zum sprachlichen Duktus des Textes. Hier fehlte es offensichtlich an einem entsprechend sorgfältigen Lektorat.

Wechsel der Tonlage

Die „Kunst des unterirdischen Fliegens“ ist insgesamt ein leichtes, spielerisches Buch, und es liegt die Vermutung nahe, dass der Autor diese Tonlage bewusst als Reaktion auf den zuvor erschienenen, sehr eindrücklichen Prosatext „Abschied ohne Ende“ gewählt hat. Dort finden wir einen völlig anders gearteten Erzähler, der versucht, den plötzlichen Tod seines 16-jährigen Sohnes zu verarbeiten. Dieser Wechsel von Moll auf Dur ist Wolfgang Hermann über weite Strecken auch gelungen.

 

Wolfgang Hermann, Die Kunst des unterirdischen Fliegens, 192 Seiten, € 15,50, ISBN 978-3-7844-3369-1, Langen-Müller-Verlag, München 2015