Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Ingrid Bertel · 13. Feb 2013 · Literatur

Voltaires Fersenbein und Walter Benjamins Hotel – „Topoi“ von Arno Gisinger

Vietnam, Frankreich, Ex-Jugoslawien, Südindien und Deutschland – das sind Gegenden, mit denen sich der Fotograf und Historiker Arno Gisinger in sehr speziellen Projekten auseinandergesetzt hat. Seine einzigartige Handschrift entwickelte er in den 1990er-Jahren bei der Arbeit an Installationen für das Jüdische Museum Hohenems. Jetzt legt der Hohenemser Verlag Bucher erstmals einen Katalog auf, der Gisingers Werk über 20 Jahre dokumentiert und beschreibt.

Der Umgang mit Erinnerung

„Dies ist der Stuhl für Eliah, sein Andenken möge gesegnet sein“, steht auf dem Sessel rechts und „Dies ist der Stuhl für den Paten“ links. Arno Gisinger hat das Objekt ausgewählt, als er 2001 für das Jüdische Museum Hohenems die Ausstellung „AusZeit“ in der ehemaligen Synagoge (damals noch ein Feuerwehrhaus) entwickelte. Gisinger zeigte die Fotografie einer Beschneidungsbank, stellvertretend für all die verloren gegangenen Kultobjekte. Und er zeigte sie als „latentes Bild“. Er verwandelte das Gebäude in eine große Dunkelkammer und präsentierte ein Bild, das erst durch den  Entwicklungsprozess sichtbar gemacht und fixiert werden kann. Darin zeigt sich gleichsam im Entstehen Gisingers Arbeitsweise: Der Umgang mit Erinnerung prägt sein Werk, das man ein künstlerisches, bildmächtiges Nachdenken darüber nennen könnte, wie Menschen sich erinnern. Und das ist ein weites Feld.

Der seitliche Blick

Oradour Sur Glane ist ein Ort des Grauens und der Erinnerung. Am 10. Juni 1944 zerstörte die SS im Rahmen der „Partisanenbekämpfung“ das Dorf zur Gänze und ermordete fast alle Einwohner. Heute ist Oradour ein „lieu de mémoire“, ein Gedächtnisort. Und weil die Zeit auch über die schlimmsten Verbrechen Gras wachsen lässt, wird dieses Gras sorgfältig von den Ruinen des Dorfs entfernt. An der ehemaligen Bahnstation sind ein paar Buchstaben heruntergefallen. Was jetzt dort zu sehen ist, liest sich „ORAGE“, also „Sturm“. Wie viel an diesem Gedenken ist Inszenierung? Wo beginnt die Pose des Rechthabers? Solche unbequemen Fragen stellt sich Arno Gisinger, und er tut es als Künstler. Während er an der Bildserie über Oradour arbeitet, entdeckt er etwas Entscheidendes: Er wechselt von der frontalen Aufnahme zu einem „seitlichen Blick“, wie Clément Chéroux beobachtet, denn der frontale Blick auf Oradour erinnere „unweigerlich an ein erschreckendes Gesicht, das dem Moloch aus dem Alten Testament gleicht – mit seinen weit aufgerissenen Augen, seinem klaffenden Mund, bereit, die ihm als Opfer dargebrachten Menschen zu verschlingen. Für Arno Gisinger ist es offensichtlich, dass die Geschichte in jener Zeit ein solcher Moloch ist. Er kann sie also nur frontal erfassen. Einige seitlich aufgenommene Bilder…, vor allem jenes des Bahnhofs von Oradour…, machen deutlich, dass der Fotograf seine eigene Positionierung in Frage stellt. Als ob er bereits verstanden hätte, dass die Frontalität eine Art Nullpunkt der fotografischen Haltung ist, eine Position, der keine Entscheidung zugrunde liegt, die quasi vom Gegenstand selbst diktiert wird.“

Häufig stellt Arno Gisinger einer Bilderserie eine zweite gegenüber, die das Thema um einige Fragen erweitert. Das gilt auch für „Oradour“. Denn im Tiroler Bergwerksstädtchen Schwaz existiert ein als „Oradour“ bekannter Ort: die Messerschmitthalle. Es handelt sich um eine zwei Kilometer im Berginneren gelegene Fabrik, die von Zwangsarbeitern unter unmenschlichen Bedingungen 1944 errichtet wurde. Hier wollten die Nationalsozialisten den Jagdbomber Me 262, den ersten Düsenjäger, bauen. „Hat nicht der Photograph – Nachfahr der Augurn und Haruspexe – die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen?“, fragt Walter Benjamin. Arno Gisinger ist diesem Denker sehr verpflichtet, und er weiß, dass Benjamin seine Frage nicht naiv verstanden wissen wollte.

„La rivoluzione siamo noi“

„Wir sind die Revolution“ – mit dieser protzigen Selbsteinschätzung signierte Joseph Beuys 1972 ein Foto, das ihn, leicht von unten aufgenommen, in schweren Stiefeln und mit Fotografenjacke auf den Betrachter losstapfend zeigt. Man könnte ein Bild aus Arno Gisingers Vietnamserie „Cù Chi“ als ironischen Kommentar dazu sehen: Die Jacke ist die gleiche, und Arno Gisinger fixiert mit angelegtem Gewehr irgendein Ziel im Dschungel. Cù Chi ist ein Gedenkort; hier gruben die Vietcong ihre berühmten Tunnel, zur Flucht wie zum Kampf. Aber hier hängt das Portrait von Hô Chi Minh auch direkt neben einem Flachbildschirm. Cù Chi hat etwas von einem Disneyland des Krieges. Wachsfiguren lächeln in Unterständen. Ihnen stellt Gisinger eine Serie von Veteranenportraits gegenüber. Und: Er zeigt den Ausstellungsraum in Hô Chi Minh Stadt während seiner Ausstellung – aber auch davor. Und da sind es eher martialische Gemälde, die an den Wänden hängen. Der zeitliche Zusammenhang verändert, was und wie etwas gesehen wird.

Ein fiktives Double

2001 fotografierte Arno Gisinger eine Serie, die er „Voltaire post mortem“ nannte. Sie gibt vor, eine Spurensuche nach dem österreichischen Fotografen Franz von Stockreiter zu sein. Dieser, ein Verehrer Voltaires, habe sich mit dem Reliquienkult befasst, der sich 1791 anlässlich der Überführung von Voltaires Leichnam ins Panthéon in Paris verbreitete. Stockreiter sei es hauptsächlich um das verschwundene Fersenbein des Philosophen zu tun gewesen. „Franz von Stockreiter, ein Mann des 19. Jahrhunderts par excellence, verstand sich als Fotograf und Historiker“, erläutert Arno Gisinger, der das verschwundene Album gefunden haben will, und doziert mit Wonne: „Seine Herangehensweise an geschichtliche Ereignisse war 'historizistisch', offensichtlich geprägt von der Lektüre der Schriften Leopold von Rankes …“ Es muss Gisinger ein exquisiter Genuss gewesen sein, solche Bilder aufzunehmen, „denn tatsächlich“ – so Gisinger in seinem Katalogtext – „lehrt uns dieses Dokument mehr über die Art und Weise, wie man im 19. Jahrhundert an historische Recherchen heranging, als über Voltaires Leben selbst.“

Wie man an historische Recherchen auch herangehen könnte, das lässt sich an der berührendsten Serie ablesen, die in diesen Katalog aufgenommen wurde. Sie gilt den letzten Lebensstationen Walter Benjamins. Ein Bild zeigt die mannshohen Buchstaben auf dem Dach des Hotels „Europa“, aufgenommen von hinten, den Blick auf Hügel und Meer freigebend. Europa hat in diesem historischen Moment sein Versprechen nicht eingelöst. So ist es tröstlich anzusehen, wie Arno Gisinger fragt und forscht, dokumentiert und Blicke eröffnet.

 

Arno Gisinger, Topoi. Hardcover, 336 Seiten, 23 x 31,5 cm. Bucher Verlag, Hohenems 2013, 49 Euro. ISBN 978-3-99018-167-6