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Ingrid Bertel · 15. Okt 2019 · Literatur

Very Special - Christoph Keller entwirft in seinem Roman „Der Boden unter den Füßen“ eine sachte Utopie des Abschieds

Lion steht in seinem Garten und hört Musik: Duke Ellington am Klavier, Charlie Mingus am Bass, Max Roach hinter dem Schlagzeug, „Very Special“ – besseren Upbeat-Blues kann es nicht geben. Der Nachbarsjunge Andri mit der „vogelleichten Stimme“ betrachtet Lions lädierten Holunder. „Das Gewicht des Schnees hat ihn gebrochen und entwurzelt, und dennoch wachsen immer neue Äste aus ihm heraus“, sagt Lion. Das kann Andri wirklich nicht beeindrucken: „Du hast einfach zugeschaut, wie es den Baum vollgeschneit hat, bis er brach“, sagt er – und damit ist das Thema des Romans angeschlagen, federleicht, elegant perlend wie die Klavierläufe von Duke Ellington.

Lion hat sich aus der Firma, die er gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Leo gegründet hat, zurückgezogen, und zwar nicht ganz freiwillig. Eine Brücke. Die die beiden gebaut haben, ist eingestürzt und hat elf Menschen in den Tod gerissen. Elf Menschen und einen Hund, korrigiert Lion, der sich schuldig fühlt. Mindestens ein Jahr lang will er keine Brücken mehr bauen. Seine Nachbarin, die Anwältin Corinna, Andris Mutter, will ihn von seinen Schuldgefühlen abbringen – zumal ihn ja auch niemand anklagt. Aber Corinna ist verschwunden, und Andri sucht nach ihr. Beim Holunder, denn das ist der Schutzbaum für beide. Andri weiß, dass Lion seiner Mutter gerne hinterher schaut. „Sie hätte mir früher begegnen sollen, was dann aber Cora verunmöglicht hätte. Ich liebe Cora über alles. Eine angenehmere Zwickmühle kann ich mir nicht vorstellen.“

Mit der Natur

Cora lehrt philosophisches Recht an der lokalen Universität, ist beruflich sehr aktiv. Trotzdem registriert sie, wie Lion sich verändert. „Unverhohlen, ohne es zu verbergen, messerscharf, mit immer weniger Wohlwollen schnitten mir ihre Blicke in die Haut.“ Während Lion sich zunehmend unbehaglicher fühlt unter diesen Blicken, schreibt Cora provozierende Essays. „Mit der Natur“ zum Beispiel. Darin plädiert sie dafür, dass wir, „wollen wir als Spezies überleben, von der biblischen Unterjochung der Natur und der Tiere und damit eben auch einer Vielzahl unserer Mitmenschen abkommen und uns auf eine Zusammenarbeit mit der Natur zurückbesinnen müssen …“
Vielleicht auf den Biber, sinniert Lion. Als Pfadfinder bekamen er und sein Bruder den Spitznamen „Biber 1“ und „Biber 2“. Schon damals bauten sie Brücken. Dabei bauen Biber doch Dämme! Nun ja, sie sind Damm- und Brückenbauer und außerdem noch Burgenbauer. Das weiß Lion mittlerweile. „Was einen Biberdamm noch eindrücklicher macht, ist der Umstand, dass er genau die richtige Menge Wasser staut, um den gewünschten Wasserpegel zu erreichen. Der Eingang zur Biberburg liegt geschützt unter Wasser, die Wohnräume aber müssen sich im Trockenen befinden. Baufehler können zu Katastrophen führen.“

Auf der Liste

Katastrophen sind Menschensache, argumentiert Cora. Und außerdem: Biber zerstören ihr Habitat nicht, nur Menschen tun so etwas. Sarhat, der Gärtner, kann davon einiges erzählen. Sein kurdisches Dorf ist einem Staudammprojekt zum Opfer gefallen. Seine Eltern und Verwandten besuchen kann er auch nicht mehr. Dafür sorgt Recep Tayyip Erdoğan. „Sarhat ist nicht politisch aktiv, braucht er auch nicht zu sein, um sich in Gefahr zu bringen. Er ist Kurde, das reicht. Damit ist er ,auf der Liste‘. Als er einmal an der Universität einen Vortrag über osmanische Kunst besucht hat, wurden Fotos von ihm geschossen. Danach hat er sie auf Facebook auf einer regierungskritischen Seite entdeckt, mit der er nichts zu tun hat. Jemand will sichergehen, dass er nicht ungeschoren davonkommt.“
Alles ist labil in Lions Beziehungen, den sicheren Boden unter den Füßen hat er längst verloren. So zieht er sich immer weiter in den Garten zurück, und je weiter er sich zurückzieht, umso größer wird dieser Garten. Fast scheint er im Wunderland der Alice zu liegen, denn plötzlich taucht ein Fluss auf mit Hütten am Ufer und einem Mädchen, das aussieht wie Schneewittchen. Auf dem Fluss treibt ein Floß mit einem Wecker, im Fluss schwimmen Cora und Lion. Oder ist das alles ein Traum?
Schon wahrscheinlich, zumal Lion alle Uhren im Haus zugeklebt hat, die Displays am Soundsystem, an Thermostat und Geschirrspüler, am Herd und der Klingelanlage, am Toaster und Fiebermesser. Seine Armbanduhr hat er in den Fluss geworfen und das Smartphone auch. Immer länger dauern die Wanderungen durch den Garten, immer mehr Tiere tauchen auf – Wölfe, ein sprechender Bär, und die so nahen Menschen sind verändert, verwandelt. Die Jahreszeiten ändern sich im Zeitraffer-Tempo. Die Sinne schärfen sich. „Der Kieselstrand, die Riesenbäume. Ich habe Angst. Geändert hat sich nichts, und doch sehe ich in der Schönheit der Umgebung jetzt auch eine Bedrohung. Ich gehe in die Knie, mache mich kleiner, unbeweglicher, versuche Teil der Landschaft zu werden.“
Da fliegt Corinna durch die Luft. „Ich zeichne mit den Augen einen Bogen durch die Luft, Corinna fliegt ihn entlang. Ich senke sanft den Blick, sanft landet sie im Gras. Sie lächelt: Es gefällt ihr, was ich mit ihr anstelle.“

Entfremdung

Es ist ein allmähliches Loslassen, das Christoph Keller hier als flirrenden Traum und Garten-Utopie erzählt. Die Entfremdung zwischen Cora, die ganz im beruflichen Leben steht, nimmt ihren Lauf. „Weil ich mich verändere und ihr Veränderungswille, wenn nicht gar ihre Veränderungsfähigkeit, nicht mit meiner Veränderungswut mithalten kann.“
Dafür bahnt sich eine träumerische Versöhnung mit Leo an und eine innige Verflochtenheit mit Corinna, Andri, Sarhat, während der Garten sich weiter und weiter ausdehnt. „Wüstensand wechselt mit Wasser ab. Ich reite ein Kamel, schnelle in einem roten Kayak durchs Wasser. Dünen, Schneekuppen, Schafe, Kühe auf einer Weide. Ein See …“
„Der Boden unter den Füßen“ ist ein sprachlich betörendes, wunderbar dicht komponiertes Buch, ein Roman, den man auf vielen Ebenen lesen kann – als spöttischen Kommentar zum politischen Geschehen, als Wunschtraum von einer sanfteren Welt, vor allem aber als betäubend zartes Abschiednehmen. Und dazu singt Van Morrison „I Can Tell“.

Ingrid Bertel ist Redakteurin des ORF Landesstudios Vorarlberg

Christoph Keller, Der Boden unter den Füßen, Verlag Limmat, Zürich 2019, 160 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-85791-880-3, € 21,80