„Memory“ - neu in den Vorarlberger Kinos (Foto: Teorema)
Annette Raschner · 03. Okt 2017 · Literatur

Verdichtetes Sprachkunstwerk - „Ungemach“ – das Romandebüt von Christoph Linher

Vor zwei Jahren gelang dem 1983 in Bludenz geborenen Autor und Musiker Christoph Linher mit dem Gewinn des Vorarlberger Literaturpreises eine handfeste Überraschung. Dass es sich dabei um keine Eintagsfliege gehandelt hat, stellte er im vergangenen Jahr unter Beweis, als der preisgekrönte Text als Erzählung unter dem Titel „Farn“ erschien. Jetzt hat der müry salzmann Verlag auch Christoph Linhers ersten Roman publiziert: „Ungemach“ erzählt von Sinnsuche und Selbstfindung, vom Verzweifeln in der Mitte und am Ende des Lebens, von der Reise nach Innen und den verzwickten Bedingungen unserer Existenz. Handlungsort ist ein fiktives Dorf namens Fernach.

Düstere Antiidylle

„Schließlich erreichten wir das Dorf: eine auf der Talschulter gelegene, überschaubare Anzahl an Häusern am Ostabhang eines breiten bewaldeten Bergrückens, in dem ein Murbruch glänzte wie eine offene Fraktur." Im Spätherbst reist der Icherzähler, ein junger Anwalt, dem gerade erst die Lizenz entzogen wurde, nach Fernach zu seiner betagten Großtante, von deren Existenz er bislang nichts gewusst hat. In seinem Koffer: Kleidung für zehn Tage. Aber der Aufenthalt dauert länger – und länger – und länger, und der Icherzähler weiß selbst nicht so genau warum. „Es gibt Entscheidungen, von denen man glaubt, man hätte sie selber getroffen, in Wirklichkeit wurde man aber dazu gedrängt, ohne dass man sich dessen bewusst geworden wäre.“ Das Versprechen der Großtante, ihm das Haus nach ihrem Ableben zu vermachen, ist es jedenfalls nicht, was ihn hält. Auch nicht die Wirtin des einzigen Gasthauses mit der hohen, stark gewölbten Stirn, unter welcher der Rest ihres Gesichts ein Schattendasein führt und der er exakt einmal sehr nahe kommt: In der Herrentoilette. Und auch nicht der Zerles-Bauer, mit dem er hin und wieder ein Glas trinkt, und der mit seinem Traktor aus unerfindlichen Gründen täglich bei laufendem Motor mitten auf der Straße stehen bleibt – später wird der Icherzähler die Wahrheit erfahren. Einiges ist seltsam in dem unwirtlichen Dorf, indem es ständig zu regnen scheint und der Nebel sein Verwirrspiel mit Mensch und Tier treibt. Da taucht eine nachtschwarze Katze auf dem Außensims auf, dort ein Hund mit einem Stumpf anstelle der Rute (im Buch fälschlicherweise als Schweif bezeichnet); plötzlich gibt es wieder Wölfe, und der Hof des Zerles-Bauern wird von der Geflügelpest heimgesucht … es ist eine düstere „Anti-Idylle“, die Christoph Linher zeichnet, der gerade bei den Naturbeschreibungen viel Sorgfalt hat walten lassen! Die Natur, sie fungiert im Roman auch als Spiegel der Seele. „Meine Schritte hallten durch den Wald, und es kam mir vor, als würden sich die Geräusche vervielfältigen, über sich hinauswachsen und ineinanderfließen wie in einem Klangwebwerk.“

Handlungsgerüst mit wortkargen Menschen

Es ist keine klassisch lineare Handlung, sondern vielmehr ein Handlungsgerüst, das Christoph Linher gebaut hat; ein Handlungsgerüst mit einem im Vergleich zum literarischen Vorgänger aufgestockten Personal. In „Farn“ kreiste ein zu Hausarrest mit Fußfessel verurteilter und an „sensorischen Irritationen“ leidender Bildhauer fast ausschließlich um sich. In „Ungemach“ ist die Atmosphäre zwar ebenfalls von Distanz, Scham und Sprachlosigkeit gekennzeichnet, aber die Figuren tauschen sich doch aus, wenngleich auch meistens enden wollend. „Die Wirtin brachte zwei Obstler. Ich machte eine abwehrende Handbewegung. Der Zerles-Bauer sah mich kurz von der Seite an, dann bedeutete er der Wirtin, beide ihm zu geben. Nacheinander leerte er sie, erneuerte seine Einladung, ihn zu besuchen und ging.“ Dorfmenschen sind bekanntlich wortkarg und Fremden gegenüber misstrauisch, aus der Reihe schlägt da nur die Großtante, die in Anwesenheit des Icherzählers geradezu aufzublühen scheint. Sie sinniert wortreich über das Leben und das Altern, den Wechsel der Jahreszeiten, Naturphänomene und über ihre Vergangenheit als zwei Mal unglücklich mit dem gleichen Mann verheiratete Frau, den sie immer mal wieder verlassen hat und zu dem sie immer wieder zurückgekehrt ist. „…sie habe nicht versucht, sich zu erklären, eine unausgesprochene Verschwiegenheitsvereinbarung sei da zwischen ihnen gewesen, ein lückenloses Verschweigen des Gewesenen, um auf diese Weise eine ebenso lückenlose Fortsetzung der Gegenwart genau an der Stelle vorzunehmen, wo sie unterbrochen worden war.“ - fast nie verwendet der Autor im Übrigen die direkte Rede.

Gelungenes Sprachkunstwerk

Der „notorische Langsamschreiber“ (Selbstaussage) Christoph Linher ist sich in „Ungemach“ treu geblieben, indem er sich – wie auch bereits in „Farn“ - primär der Sprach- und nicht der ohnehin aktuell inflationären Erzählkunst widmet. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Komposition und dem Finden stimmiger, origineller Bilder und Metaphern für seine punktgenauen Beobachtungen. Das macht seinen Ton unverkennbar, auch wenn er hin und wieder über das Ziel hinausschießt. „Der Wind stimmte in den Bäumen wie von Alters her dieselbe Leier an, er beherrscht das Spielen vom Blatt perfekt.“ Über weite Strecken überzeugen seine poetisch verdichteten Sprachbilder, zumal sie mit spannenden, philosophisch grundierten Beobachtungen einhergehen. Inhalt und Form bilden eine schöne Einheit. „Ich dachte an die Großtante, an ihre Frage, ob es eine Verwandlung ohne Schmerzen geben könne, wo man sich doch herauslösen, sich hinauszwängen müsse aus der eigenen beengenden Fremde, sich an sich selber stoßen, reiben, wundreiben müsse? Wir würden den kürzeren Schmerz der Entwöhnung mehr fürchten als den permanenten Juckreiz, den unser in der Sehnsucht wundgelegener Seelenkörper verursache.“

 

 

Christoph Linher „Ungemach“, Roman
Susanne Alge „Vorfahren, Verwandte und andere Verwirrungen“, Kurzgeschichten
Doppellesung
11.10., 20 Uhr
Landestheater, Bregenz


Christoph Linher, Ungemach, Gebunden mit Schutzumschlag, Müry Salzmann Verlag, ISBN 978-3-99014-156-4, 128 Seiten, € 19,-