Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Florian Gucher · 08. Nov 2022 · Literatur

„Vaters Kiste“ von Lukas Bärfuss

Lukas Bärfuss‘ neues Buch „Vaters Kiste“ beginnt mit einer belanglosen Bananenschachtel und ihrem geheimnisvollen Inhalt, der ganze Welten und Lebensphilosophien umspannt. Nach und nach öffnet er sie dem Lesepublikum und verheddert sich in Untiefen existentieller Fragen rund um das Erbe und das Besitztum, sowie er in poetisch ausgefeilten Sätzen von einem ins andere wechselt und schließlich beginnt, scheinbar unzweifelhafte Dinge in neuen Zusammenhängen zu denken.

Von Charles Darwins Evolutionstheorie, dem römischen Rechtskodex bis hin zu den brennenden Problemen der Gegenwart, der Autor sucht das Große im Kleinen auf. Bärfuss legt ungeahnte Querverbindungen frei, zeigend, dass alles Starre, Festgelegte und Verankerte ein Kind seiner Zeit und fluide wie veränderbar ist. Wie ein Stich ins Herz und Balsam auf der Seele dann die Frage: Ist es nicht an der Zeit, ein hundert Jahre altes und überholt wirkendes Erbrecht unserer Generation anzupassen?

Kleine Anekdoten – großer Inhalt

Da hat der Dramatiker und Romancier Lukas Bärfuss aus Thun wieder mal was vorgelegt. Diesmal kramt er im wahrsten Sinne des Wortes weit zurück in der Menschheitsgeschichte, um nicht nur Vaters Kiste als einzige ihm verbliebene Hinterlassenschaft zu entstauben, sondern mit ihr das ganze Prinzip der Nachkommenschaften, Erbschaften, Mächte und sozialen Bedingungen, auf die das Leben fußt. Zwei rechtswissenschaftliche Vorträge seinerseits in Zürich und Weimar gaben dem Schriftsteller Anstoß, sich intensiv mit dem Recht der Nachgeborenen und nicht zuletzt mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen: „Ich stieß tatsächlich auf Vaters alte Kiste und habe sie in diesem Zuge erstmals in alle Einzelheiten auseinandergenommen. Es ist der Versuch, große gesellschaftliche Fragen anhand der eigenen Geschichte zu erörtern und umgekehrt. Das eine spiegelt sich im anderen“, so der Schweizer Autor im Gespräch. Er rollt im knapp 100 Seiten umfassenden Bändchen nicht nur Verborgenes hervor, sondern hinterfragt Grundlegendes. Basierend auf die eigenen Erfahrungen mit seinem kriminellen Vater, debattiert er über ein ausbeuterisches System, das sich über Privatvermögen definiert und damit den Gleichheitsgrundsatz gleichermaßen aushebelt. Wem gehören die Privilegien, die ausschließlich aufgrund des Geschlechtes, der Nationalität und dem Erbe verteilt werden? Sind es nicht die Hinterlassenschaften als Erbe oder Müll, die das Schicksal der Nachfahren bestimmen und bis zu einem gewissen Grad besiegeln? Es sind entscheidende Fragen, deren Lösungen sind nicht einfach so finden lassen, ohne Selbstverständlichkeiten ad acta zu legen.

Einladung zum Überdenken

Subtil unterwandert Bärfuss geltende Systeme, ohne sich anzumaßen, eine ultima Ratio zu kennen. Vielmehr spielt er literarisch Optionen durch, die für mehr Gerechtigkeit sorgen könnten, gibt aber auch bittere Realitäten wieder. Mit dabei ist die Idee des privatisierten „Erbmülls“, der dem Problem der immer akuter werdenden Vermüllung entgegensteuern würde: „Das Erbrecht regelt Vermögen und Schulden, aber nicht den Abfall, der sich quantitativ vermehrt. Hier muss wohl eine Veränderung her“, erzählt Bärfuss. „Das ist der Müll, das ist das Erbe ohne Erben, das herrenlose Gut, an dem unsere Zivilisation zu ersticken droht und das endlich Gesetze braucht, neue Gesetze, denn jene vom Eigentum, vom Erbe, von der Familie fassen die Wirklichkeit nicht, in der wir leben“, formuliert er es in seinem Buch. Der Autor nimmt jedenfalls das Ganze mitsamt dem, was uns Halt gibt, auseinander, lässt uns kurzzeitig im luftleeren Raum schweben und entreißt uns aller Sicherheit, um dann zu zeigen, dass es anders gehen könnte. Sowie Rosseaus Freiheitsgedanke „Der Mensch ist frei geboren“ Seite für Seite zerbröckelt, wird auch klar, dass die nur scheinbare Gleichheit unserer Gesellschaft auf brüchigem Fundament gebaut ist. Bärfuss schafft es, das Kind beim Namen zu nennen und ein Um- und Weiterdenken einzuleiten.

Sozialtheorie als unterhaltsame Lektüre

„Vaters Kiste“ ackert das Feld unseres gesellschaftlich geregelten Lebens Gedanken für Gedanken durch und treibt sich wie von selbst durch die Frage an, wie wir die Interessen der kommenden Generationen besser formulieren können. Und das ohne im theoretischen Einheitsbrei zu versinken, sondern vielmehr mit einem Mix aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und eigenen Erfahrungen. Fast alle Darlegungen werden mit aus dem Leben gegriffenen Beispielen in Beziehung gesetzt, wie sie dann als konkrete Gebilde hervortreten und (be)greifbar werden. So theoriebelastet das Buch zunächst anmutet, „Vaters Kiste“ zieht Vorstellungen und Erkenntnisse unmittelbar aus der Praxis heraus. Oft humoristisch, um nicht zu sagen höhnisch wiedergegeben, ohne jedoch den Ernst der Lage aus dem Auge zu verlieren, bringt Bärfuss die Wirklichkeit derart wirkungsstark auf den Punkt, dass es fast schon schmerzt. Das Leben ist kein Wunschkonzert, es wird von den Mächtigen bestimmt und von den Kleinen bitter bezahlt. Die Kunst von Bärfuss ist es dabei, selbst bei ernsthafter Thematik zum Schmunzeln einzuladen. Sprachlich bewegt er sich bis an den Rand des Möglichen. Er plaudert über Gott und die Welt, kostet unmögliche Konstruktionen und Verbindungen aus und geht der Sache auf den Grund, die uns gedanklich viel zu wenig beschäftigt und doch stets tangiert: „Die Erbschaft ist etwas, das alle irgendwann betrifft, sei es durch den Tod von Mutter und Vater oder letztlich durch die eigene Sterblichkeit“, so der Autor im Interview. Das Buch gibt zeitgleich Hoffnung, denn Bärfuss ist niemand, der in der Düsterheit und Dystopie des Lebens versinkt. Vieles davon zehrt auch von der Geschichte selbst, die durchaus seine Schatten- aber auch Sonnenseiten hat. Mit dem Blick auf die Randständigen der Gesellschaft und der darauf basierenden Verbesserung der sozialen Lage, legitimiert Bärfuss nicht zuletzt die Erzählung über den eigenen Vater: „Die Beschreibung entsetzlicher Armut, ein gern gelesener Stoff der bürgerlichen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, verbesserte nach und nach auch die Situation der Londoner Müllmenschen. Soziale Ungerechtigkeiten fanden eine Stimme. Es lohnt sich, die Aufmerksamkeit den Verachteten zu schenken, es lohnt sich nicht nur für sie selbst, es lohnt sich für alle“, heißt es an einer Stelle des Werkes. Sowie sich Geschichte und Gegenwart kreuzen, spricht er Mut zu. Es ist noch nicht aller Tage Abend. „Vaters Kiste“ kann Augen öffnen. Es ist an der Zeit, über große Zusammenhänge nachzudenken – tun wir es.

Lukas Bärfuss: Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben. Rowohlt, Hamburg, 2022, 96 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-498-00341-8, Euro 18