Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Raffaela Rudigier · 26. Okt 2022 · Literatur

Neues Lesebuch aus unartproduktion: „Aller Seelen“ – von Armen Seelen, Gehängten und Seelenlöchern

Pünktlich zum alljährlichen Totengedenken erscheint mit „Aller Seelen“ der 16. Band der Lesebuch-Reihe der unartproduktion. Ulrich Gabriel gibt, in Zusammenarbeit mit Norbert Huber und Franz Gassner, ein Vorarlberger Lesebuch zum Thema Seele heraus. Darin versammelt sind 121 Geschichten, Gedichte, Aphorismen, Bilder, Fotos, Lexikon-Einträge, Essays und vieles mehr rund um die Themen Sterben, Tod und Seele.

Ein Sammelsurium angereichert mit Kunstwerken von Franz Gassner und Beiträgen von 88 heimischen und internationalen Autor:innen, darunter beispielsweise Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl, Kurt Bracharz, Carlos Castaneda, Seneca, Raoul Schrott, Maria Simma und viele andere. Gauls Lesebücher sind Kaleidoskope, die aus scheinbar willkürlich zusammengewürfelten Fundstücken ein Ganzes ergeben. Sie sind unterhaltsam und kurzweilig, skurril und durchaus auch tiefsinnig. Der „Aller Seelen“-Band lädt an kühlen Herbstabenden dazu ein, der Flüchtigkeit des Lebens und der Rätselhaftigkeit der Seele nachzuspüren.

Der Gehängte soll am Galgen verfaulen

Zahlreiche Beiträge des Buches handeln von Volksbräuchen, Aberglauben und historischen Begebenheiten und geben ein Bild davon, wie in Vorarlberg zu verschiedenen Zeiten mit dem Tod umgegangen wurde. „Noch aus einem weiteren Grund durfte es an der guten Qualität des Stricks nicht fehlen: Der Hingerichtete sollte möglichst lange am Galgen hängen bleiben, daß die Vögel darab gefressen haben und die Gerippe dann, wenn der Wind sie bewegte, klapperten. Der Chronist Johannes Häusle berichtet von vier Übeltätern, die auf Ranckhweiler Seiten seind aufgehenckht worden. Ale viere zum Exempell und abschreckhen böser Thaten zu verüben hangen laset, wie solches alzeit gebrechlich. Ursprünglich durfte ein Gehängter überhaupt nicht abgenommen werden, er sollte am Galgen verfaulen und von selbst herunterfallen. Damit war ihm in der Regel auch ein Begräbnis verweigert und was noch wesentlich schlimmer war: Er konnte seine ewige Ruhe nicht finden“, heißt es etwa in einem Text von Franz Elsensohn.
Berichtet wird beispielsweise auch von den übersinnlichen Fähigkeiten von Maria Simma (1915 – 2004) aus dem kleinen Dorf Sonntag im Großen Walsertal. „Sie war eine weit über die Grenzen Vorarlbergs bekannte Armen-Seelen-Mystikerin. Maria Simma hatte von Gott die besondere Gnadengabe erhalten, mit den Armen Seelen des Fegefeuers zu sprechen. Sie durften durch Maria Simma um Hilfe bitten: Gebete, heilige Messen, den Kreuzweg und den Rosenkranz. Sehr oft musste Frau Simma Personen aufsuchen und ihnen Aufträge von den Armen Seelen übergeben, z.B. ungerechtes Gut zurückgeben, oder um Vergebung bitten, wenn eine Feindschaft über den Tod hinaus bestand, auch hat sie für die Armen Seelen viele Leiden auf sich genommen und gesühnt. (…) Maria Simma sagt, dass die Sünden gegen die Liebe, Ehrabschneidung, Verleumdung, Unversöhnlichkeit, Streitereien durch Habgier und Neid in der Ewigkeit am schwersten angelastet werden.“

Damit die Seele hinauffahren konnte

Ein Vorarlberger Seelen-Brauch hat sich eine Zeit lang sogar in der Architektur manifestiert: das Seelenloch. Im hinteren Bregenzerwald, im großen Walsertal oder auch im Montafon finden sich in manchen alten Häusern Seelenlöcher, quadratische oder rechteckige Löcher (zb. 10 x 10 cm), die meist ober dem mittleren Stubenfenster auf der First- oder Gibelseite platziert sind. Innen wurde das Loch mit einem passenden Holz, einer kleinen Tür oder einem Schieber geschlossen. Dazu heißt es in einem Text von Werner Vogt: „Wenn jemand starb, wurde dieses Loch in der Wandung geöffnet, damit die Seele des in der Stube Aufgebahrten zum Himmel hinauffahren konnte. Sobald aber der Verstorbene aus dem Hause zur letzten Ruhe zum Friedhof gebracht war, wurde sogleich das Loch wieder zugemacht, damit die bösen Geister nicht eindringen konnten!“ Und an einer anderen Stelle heißt es bei Vogt: „Gesamthaft haben sie alle sehr wahrscheinlich einen heidnischen Brauch zur Ursache, der von den Walser Kolonisten aus der Urheimat übernommen, bei älteren Holzhausbauten allerorten erkennbar ist. Etwa um 1700 wurde der Einbau vom Seelenloch nicht mehr weiter verfolgt, da von der Obrigkeit als unchristlich abgetan.“
Seelenlöcher sind auch von Megalithgräbern bekannt. Dort sind es oft Löcher in den Verschlusssteinen der Gräber, welche wahrscheinlich auch als Ein- und Ausgangsöffnung für die Seele des Verstorbenen dienen sollten.
Neben historischen Begebenheiten gibt es jedoch auch allerhand Zeitgenössisches im neuen Lesebuch zu entdecken. Wer also heuer tiefer in die Allerseelen-Zeit eintauchen möchte, kann das mit dem „Aller Seelen“-Lesebuch eingehend tun.

Ulrich Gabriel (Hg.); „Aller Seelen Lesebuch“, unartproduktion, Dornbirn 2022, 145 Seiten, ISBN: 978-3-902989-61-1

Buchpräsentation: Am Allerseelentag, Di, 2.11., 18.30 Uhr, Raiffeisen Forum Friedrich Wilhelm, Dornbirn