Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 25. Okt 2022 · CD-Tipp

Björk: Fossora

Auch das 10. Album der mittlerweile 56-jährigen Björk Guðmundsdóttir, die mit all ihren visuell aufwendigen Inszenierungen in üppigen, futuristischen Outfits längst zum Gesamtkunstwerk mutierte, ist wieder ein faszinierendes Sammelsurium aus waghalsigen musikalischen Ideen, ausgefallener Gehirnwindungsgymnastik gedanklicher Art und emotionalem Tiefgang. Pandemie-bedingt verbrachte sie mehrere Monate am Stück in Island, back to the roots also, was man im Fall von „Fossora“ – das übersetzt soviel wie „die Grabende“ bedeutet – durchaus wörtlich nehmen darf. Denn Björk schickte ihre Gedanken unter die Erdoberfläche, in die geheimnisvolle Welt der Pilze, deren riesig dimensionierten Myzele als weitverzweigte Kommunikationssysteme bekanntlich Gegenstand spannender wissenschaftlicher Untersuchungen sind, ihr naturgemäß aber auch reichlich metaphorisches Material für ihre nicht immer ganz leicht zu fassenden Texte liefern.

Dazu kommen als weitere inhaltliche Schwerpunkte die Verarbeitung des Todes ihrer Mutter, der exzentrisch-hippiesken Umweltaktivistin Hildur Rúna Hauksdóttir, sowie das Erwachsenwerden ihrer eigenen Kinder und das damit von Björk als Mutter geforderte Loslassenkönnen des Nachwuchses. Diese Themen werden ähnlich extravagant und vielschichtig behandelt wie in den Vorgänger-Alben „Vulnicura“ (2015) die tragisch-schmerzhafte Trennung von ihrem Langzeit-Partner Matthew Barnay und die teils nur durch utopische Vorstellungen gelingende Überwindung dieser Misere in „Utopia“ (2017). Auch vom Musikalischen her entzieht sich Björk seit Langem weitestgehend den üblichen Vorstellungen von Pop-Musik und präsentiert für jedes neue Album auch neue avantgardistische Soundkonzepte, unkonventionelle Instrumentierungen und außergewöhnliche stilistische Verknüpfungen. So prallt auf „Fossora“ ein sechsköpfiges Bassklarinetten-Ensemble, das laut Björks Spielanleitung klingen sollte, als ob es im Jahr 2050 nach dem Konsum von eineinhalb Gläsern Rotwein in einer Jazz-Bar aufspielen würde, auf das mit indonesischen Gamelanmusik-Elementen angereicherten Hardcore-Techno-Geballere des Electronic-Duos Gabber Modus Operandi. Weiters zu hören: elektronisch überarbeitete Posaunen-Wolken, ein seltsam zusammengesetztes Puzzle aus verzerrten Vocal-Schnipseln ihrer Stimme, der extravagante Hamrahlið-Chor aus Reykjavik unter der Leitung seiner legendären Gründerin Þorgerður Ingólfsdóttir, ein zehnköpfiges Streichorchester, ein zwölfköpfiges Flöten-Ensemble, Oboe, Englischhorn, jede Menge Elektronisches und als Gastsänger:innen der New Yorker Serpentwithfeet, die norwegische Singersongwriterin Emilie Nicolas, Björks Sohn Sindri und ihre Tochter Ísádora. Das alles wird durch Björks einzigartige, zwischen intimer Verzweiflung und ganz großem Drama changierenden Stimme zusammengehalten, ihren unnachahmlichen Gesangsmanierismen, die sich längst in die Gehörgänge eingegraben haben. Für aufgeschlossene Musik-Fans ist es ein vielschichtiges Vergnügen, sich das neue Björk-Opus anzuhören, für alle anderen ein – möglicherweise nervenaufreibendes – Erlebnis.

(One Little Independent Records)