Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Niedermair · 09. Dez 2019 · Literatur

Stimmungen – Reflexionen. Alfons Kräutler (1907–1993) – Ein neu zu entdeckender Dornbirner Künstler

Diesen Herbst erschien im Hohenemser Bucher Verlag das auf der Gustav und an der Dornbirner Realschule präsentierte Katalogbuch über das Schaffen des Dornbirner Malers und Grafikers Alfons Kräutler anlässlich seines 25. Todestages (2018). Das von Hadwig Kräutler und Theresia Erne sehr schön gestaltete Buch beleuchtet eine vielseitige, lokal rezipierte Künstlerpersönlichkeit aus bisher wenig bekannter Perspektive. Neben den lesenswerten Textbeiträgen von Petra Zudrell, Werner Matt, Josef Seiter, Reinhard Haller, Johannes Rauch, Klaus Fessler und drei Aufsätzen von Hadwig, Tochter von Alfons Kräutler, zeigt der Band den Künstler in verschiedenen Notizen und Gedanken wie auch Abbildungen seiner Arbeiten, darunter Fotos bisher nicht bekannter Bilder und großformatiger Reproduktionen vieler der im Jahr 2017 entdeckten Grafiken; allesamt Arbeiten auf Papier.

Alfons Kräutler war ein Mensch des 20. Jahrhunderts, das er von dessen Anfang bis nahezu dessen Ende durchlebte. So ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass seine persönliche Geschichte beispielhaft zeigt, wie das Leben mit den historischen Voraussetzungen zusammengeht bzw. wie die persönlichen Entwicklungen mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen ineinander verschränkt sind. Zufälle, entdeckte Begabung, persönliche Begegnungen, Inklusion oder Exklusion, Emotionen, die Familie, Orte, Vorlieben, Affinitäten und anderes mehr erlauben heute einen gut strukturierten, sorgfältig und empathisch aufbereiteten Zugang und interpretierbaren Einblick in Alfons Kräutlers sieben Jahrzehnte dauerndes Schaffen. Kräutlers Biografie wird eingebettet in die Zeit und die Lebensumstände und durch historisch relevante Dokumente belegt. „Seine persönliche wie künstlerische Entwicklung wird im Kontext und aus einem sozio-konstruktivistischen Ansatz plausibel umrissen. Die Bedingungen, die Atmosphäre und die speziellen Herausforderungen des Studiums in den 1920er Jahren in Wien, später in der Zeit von Ständestaat, Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, auch die nachhaltige Widerständigkeit von Alfons Kräutler gegen jegliche Vereinnahmung durch, wie er meinte, modische Kurzlebigkeit und deren Auswirkungen auf sein Kunstschaffen und seine Lehrtätigkeit werden thematisiert.“ (Aus Hadwig Kräutler, zur Publikation, 2019)

Kunst- und kulturgeschichtliche Kontinuitäten

Im Zusammenhang mit der vorliegenden Publikation sind auch andere Fragen von Interesse, u. a. die Hintergründe und das Nachwirken der kunst- und kulturgeschichtlichen Kontinuitäten in der Provinz. In diesem Sinn ist das Buch ein wesentliches und modellhaftes Dokument unserer Erinnerungskultur und appelliert implizit, den Bogen von vermittelter Erinnerung hin zur erforschten Historie auch in Familien zu beschreiten. Darin verweist diese diskurshafte Auseinandersetzung mit der Biografie des Künstlers Alfons Kräutler auf das ineinander gelagerte Verfließen verschiedener Narrative und Bildsprachen. Hier in meiner Auseinandersetzung mit dem Künstler geht es nicht um die sensible Aufmerksamkeit in seiner auf naturalistischer und neo-romantischer Bildtradition fußenden Kunstauffassung. Kräutler gestaltete höchstvermutlich eine rein visuelle Reflexion dieser seiner Wirklichkeit. Er war – wie wir wissen – offen für Phänomene der Natur, begeisterte sich für andere Kulturen und historische Bildsprachen … Alfons Kräutler hat Brückenbogen gebaut zwischen dem Alten und dem Neuen, Pontone und Anlehnungen konstruiert und ein Leben für Beziehungen gelebt, die aus dem Herzen gekommen sind, vor allem zu seiner Familie, und auch zu seinen Schülern und Schülerinnen an der Dornbirner Realschule. Und ein Leben für die Kunst. Seine Kunst. Die jetzt in den letzten Jahren mehr und mehr – durch das große Engagement der Familie, vor allem von Hadwig, der Tochter, bekannt gemacht wird. Das 25-Jahr-Jubiläum, die drei gefundenen Mappen und eine große Ausstellung legen davon Zeugnis ab. Mein Blick auf den Künstler ist u. a. der erinnerte Blick eines Kindes aus der Nachbarschaft und eines interessierten Zeitgenossen am Kunstschaffen in diesem Land, früher und heute. Und wie sich Traditionen weiter entwickeln und neue Einblicke schaffen. Das Buch über Alfons Kräutler ist dafür ein willkommener persönlicher Anlass. 

Das Netz der Erinnerungen

In Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kann man nachlesen, dass Erinnerung nur ganz wenig mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern mit unserer Vorstellung von ihr. Erinnern heißt immer auch vergessen. Heißt auswählen, was zur Konstruktion der Biographie gehört und was nicht. Erinnern ist ein willkürlicher Akt, doch nicht beliebig. Im Gegenteil. Die Erinnerung knüpft die Knoten eines Netzes von Beziehungen und Bedeutungen zu einer Erzählung. Das Netz ist unübersichtlich. Es ist ein Teil der Selbstaufklärung und der Selbstkonstruktion, schreibt Aleida Assmann, die mit Jan Assmann, ihrem Gatten, der zu den monotheistischen Religionen geforscht hat, in Konstanz lebt. Das Vergangene enthält auch viel Zukünftiges. Der Krieg hatte alles verdorben. Wir werden uns mit dem noch lange Zeit auseinandersetzen. In diesem Sinn vergeht die Vergangenheit nicht. Mit unserem Gedächtnis jedoch können wir beziehungsfähig werden und etwas von dieser Geschichte begreifen. Oliver Sacks und Joachim Bauers Forschungen bestätigen diese Haltungen für die Literatur wie für die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften.
Mit dieser vorgelegten Biografie betreten wir über Wortleitern der Autor*innen und Hadwig Kräutlers Zusammenstellung von ihres Vaters Beiträgen und Reflexionen zur Kunst einen zeitlosen Raum zur Biografie und zur Zeitgeschichte, einen Raum, in dem alles entschleunigt stattfindet, wo man sich in Ruhe hinsetzen und reden kann. Da sind noch viele Fragen offen und manche noch gar nicht gestellt. Hadwig Kräutler, wie schon gesagt, und die gesamte Familie haben diesen Raum geöffnet. Das ist schon sehr viel und die Stadt Dornbirn, wie es Petra Zudrell und Werner Matt in ihren Beiträgen klar bezeichnen, besitzt mit der Künstlerpersönlichkeit Alfons Kräutler einen reichen „Brunnen der Vergangenheit“ und das „sprechende Schweigen“ seiner Kunst. In dieser Ökologie-sensiblen Gegenwart heute öffnen sich weitere Türen und Dimensionen für die Auseinandersetzung mit dem Kunstschaffen Alfons Kräutlers, das zu einem wesentlichen Teil modern ist.  

Das Bild der Familie und die wunderbaren Jahre

Ich habe Prof. Kräutler sehr gut gekannt und auch gut in Erinnerung. Das Mosaik am Haus der Kräutlers schräg vis-a-vis entstand in jener Zeit, als ich am Beginn der Sechzigerjahre in die Volksschule ging. Für mich war das Bild immer Ab- und Sinnbild der Familie. Es stand für die goldene Zeit der Familie im Unteren Porst.
„Ich war elf, und später wurde ich sechzehn ...“ Was wir gelernt haben in dieser Zeit, weiß ich nicht mehr so genau, aber es waren wunderbare Jahre. Der Untere Porst im Rohrbach war zwar nicht das Schwungrad der Welt der damaligen Zeit, sondern eher eine Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Es gab eine Johann Strauß-Gasse, ein schmaler geschotterter Pfad in Richtung Bahnhof und die „City“, und es gab zum Glück noch keine Volksschule im Stadtteil Rohrbach, was uns die schönsten Erinnerungen im Zusammenhang mit Schule brachte, in der Regel halbstündige Schulwege, auf denen immer etwas los war. Darüber hinaus war der Untere Porst jenes El Dorado, von dem man in Robert Louis Stevensons Buch „El d'Orado“ – „To travel hopefully is a better thing than to arrive ...“ gelesen hatte, jenem Paradies, in dem es nahezu keine Einschränkungen und Verbote gab. Vor allem hatte dieses Paradies der Kindheit, das – wie man weiß – nicht immer paradiesisch war und vielleicht erst in unserer Erinnerung zum solchen geworden ist, einen ganz besonderen und unschätzbaren Wert. Wir wurden nicht kontrolliert. Armbanduhren gab es keine, dafür Trittroller, genug Bäume zum Klettern im nahegelegenen Wald und Theaterspielen. Meist bei uns in der Garage. Mein Vater hatte vom Conrad Sohm eine Reihe Kasperlfiguren gebracht, wir haben uns eine Guckkasten Bühne gebaut, die wir anmalten und für die Mama Vorhänge nähte. Die Geschichten haben wir (wie Kinder heute) selbst erfunden. Jedes Mal neue. Hadwig war immer dabei. Und „Herr Kräutler“, der Nachbar, der mit uns Kindern immer sehr umgänglich war, hat sich das eine und andere Stück angeschaut, uns animiert, weiter zu spielen, wenn er nicht gerade auf der nebenan liegenden Wiese oder drüben am Waldrand die Rösser tuschzeichnete. Oder Bäume. Ich denke, er hat in seinem Kunstschaffen auch Archive angelegt sowie die Natur, Landschaften, Tiere und Häuser inventarisiert. Und damit auch „aus dem Wertbewusstsein und der Verantwortung als denkender Mensch (geschaffen), der seine Kräfte nicht einsetzen darf für die Eskalierung des Schreckens und der Vernichtung, sondern für das Leben“. (Zitat Alfons Kräutler, im Buch Seite 103)
Frühe Erinnerungen sind Erfahrungen, die wir aus oft unerklärlichen Motiven behalten. Und weil sie nicht im Rahmen einer größeren Geschichte angesiedelt werden können, schweben sie. Gleichzeitig sind sie womöglich aus eben diesem Grund unverklärter als spätere Erinnerungen. Meine „Bilder“ von Alfons Kräutler, dem Nachbarn und „malenden Professor“ gehören zum Inventar meiner Kindheits- und Jugenderinnerungen.

Stimmungen – Reflexionen. Alfons Kräutler (1907–1993), Bucher Verlag, Hohenems 2019, 128 Seiten, ISBN 978-3-99018-511-7, EUR 20